Kirche und Missbrauch: Gerechte Entschädigungen? (Prof. Dr. Bernhard Hohlbein)
07.11.2025 Bernhard Hohlbein, Professor für Rechtswissenschaft an der Leuphana Law School, schlägt in seiner neusten Publikation Optionen für gerechte Entschädigungszahlungen für Missbrauchsopfer vor. Der Beitrag erschien in der unabhängigen Fachzeitschrift VersR, die als wichtiges Forum für Praktiker*innen, Anwält*innen und Richter*innen gilt. Im Interview umreißt er die juristischen Hintergründe sexueller Übergriffe in der katholischen Kirche.
©Bernhard Hohlbein
Der sexuelle Missbrauch durch kirchliche Amtsträger hat national und international für Empörung gesorgt. Was macht diese Fälle juristisch und gesellschaftlich so besonders?
Die Brisanz liegt in der institutionellen Dimension. Es geht nicht nur um individuelles Fehlverhalten einzelner Täter, sondern um systemisches Versagen. Die Täter waren eingebettet in Strukturen, die die Autorität der Täter stützten, ihr Handeln deckten oder zumindest nicht hinterfragten. Wenn dann ausweislich der MHG-Studie über Jahrzehnte hinweg Akten vernichtet, teilweise vernichtet und Verantwortung abgeschoben oder Entschädigungen verschleppt werden, entsteht der Eindruck eines kalkulierten Wegsehens.
Das sind erhebliche Vorwürfe. Wie bewerten Sie denn vor diesem Hintergrund die Aufarbeitung durch die katholische Kirche in Deutschland bislang?
Es gibt wichtige Fortschritte: die MHG-Studie, das Anerkennungsverfahren, Leitlinien zur Prävention – all das waren und sind bedeutende Schritte nach Jahrzehnten des Schweigens. Doch vieles wirkt reaktiv, als handle die Kirche nicht aus innerer Überzeugung, sondern lediglich auf öffentlichen Druck. Viele Betroffene empfinden die Verfahren als entwürdigend, intransparent und schleppend. Die Entschädigungsbeträge wirken oft beschämend niedrig.
Zur Lösung schlagen Sie ein gestuftes Entschädigungsmodell vor. Wie könnte das aussehen?
Ausgangspunkt könnte ein Basiswert von etwa 300.000 Euro sein – so vorgeschlagen von Betroffeneninitiativen und kirchlichen Arbeitsgruppen. Je nach Schwere und Besonderheit des Falles sollte das Gericht diesen Betrag nach oben oder unten anpassen können. Wenn institutionelles Versagen oder schleppende Regulierung erkennbar sind, sollte eine Verdopplung dieses Wertes möglich sein. Und bei vorsätzlicher Tatbegehung – das ist bei Missbrauch der Fall – wäre ein weiterer Zuschlag angemessen, denn Vorsatz erhöht das Maß des Verschuldens. Dann könnte also ein Basissatz wegen verzögerter Regulierung plus Vorsatz zu verdreifachen sein.
Welchen Einfluss hat die wirtschaftliche Lage der Kirche auf Ihre Überlegungen?
Abstrakt gesprochen ist das wichtig. Wohlhabende Bistümer wie Köln, Paderborn oder München-Freising verfügen über Milliardenvermögen. Gerichte haben es in anderen Fällen grundsätzlich für zulässig gehalten, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Schädigers bei der Schmerzensgeldbemessung zu berücksichtigen. Und moralisch stellt sich ohnehin die Frage, wie glaubwürdig kirchliche Verantwortung ist, wenn man sich bei der Entschädigung der Opfer kleinlich zeigt.
Was sollte die Kirche nach Ihrer Meinung tun, um glaubwürdiger mit der Vergangenheit umzugehen?
Sie müsste transparenter agieren, Entschädigungen zügig und angemessen leisten, unabhängige Aufarbeitung ermöglichen – und Verantwortung nicht nur predigen, sondern auch tragen. Schmerzensgeld ist kein Almosen, sondern Ausdruck rechtlicher und moralischer Verantwortung.
Das vollständige Interview finden Sie hier. Hier finden Sie die Original-Publikation.
Die Fragen stellte Mathias Paulokat, MBA. Als Diplom-Wirtschaftsjurist (FH) ist er Lüneburger Alumnus. Er ist Pressesprecher im Bankgewerbe und der Leuphana Universität Lüneburg als Gastredner verbunden.