Wissenschaftlerin im Porträt: Elke Schüßler – „Die Spielregeln des Markts ändern“
10.09.2025 Elke Schüßler ist Professorin für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Entrepreneurship und Organisation am Institut für Management und Organisation. In Ihrer Forschung untersucht sie, wie organisatorischer und institutioneller Wandel hin zu mehr Nachhaltigkeit und sozialer Verantwortung möglich ist, woran er scheitern kann und welche Rolle unternehmerisches Handeln dabei spielt. Als prägnantes Beispiel nimmt sie beispielsweise die Lieferketten von Textilunternehmen in den Blick. Hier zeigt sich besonders gut, wie global agierende Unternehmen gesellschaftliche und ökologische Krisen vorantreiben, aber auch, welche Lösungsansätze es geben kann.

Wo Menschen sind, gibt es Trampelpfade. Egal, ob in Parks, auf dem Campus oder auf öffentlichen Plätzen: Je nach Wetterlage sind sie hell- oder dunkelbraun und an ihnen lässt sich gut vergleichen, was sich Raumplaner*innen vorgestellt haben und wie tatsächlich gelaufen wird. Man kann die Menschen, die diese Trampelpfade benutzen, aber auch ganz direkt fragen: „Sind Ihnen Grünflächen wichtig?“ und die allermeisten werden das bejahen. Man kann auch fragen: „Teilen Sie die Einschätzung, dass Sie durch die Benutzung des Trampelpfades nie mehr als maximal vier bis fünf Sekunden Zeit einsparen?“ und auch hierzu würden die meisten Befragten „Ja“ antworten. Trotzdem werden genau dieselben Personen den Trampelpfad immer wieder benutzen. Es gibt ein Beharrungsvermögen, das eben nicht auf fehlende Information oder mangelnden Veränderungswillen zurückzuführen ist.
Bis zu einem gewissen Grad gilt das gleiche Muster auch für viele Nachhaltigkeitsprobleme. Zum einen ist individuelle Rationalität immer durch soziale Strukturen begrenzt – wir nutzen den Pfad ja meist nicht, weil wir genau die Zeitersparnis ausgerechnet haben, sondern weil alle anderen ihn auch nutzen; umgekehrt führen rationale Individualentscheidungen häufig erst auf einer kollektiven Ebene zu suboptimalen Ergebnissen oder unerwünschten Nebeneffekten. Je komplexer und unsicherer die Umwelt, desto eher verlassen sich Individuen wie auch Organisationen auf altbewährte Mechanismen. „So genannte Pfade oder Pfadabhängigkeiten, die Persistenzen und Verriegelungen erzeugen und Veränderungen schwer möglich machen, beschäftigen mich schon seit meiner Dissertation“, sagt Schüßler, „gleichzeitig muss sich aber vor dem Hintergrund der vielen sozialen und ökologischen Krisen unserer Zeit vieles verändern. In diesem Spannungsfeld bewegt sich letztlich meine Forschung.“
‚Wie oft wirst Du dieses T-Shirt anziehen?‘
Das Anfang Januar 2024 in Kraft getretene Lieferkettengesetz, das globale Lieferketten menschenwürdig und sozial gestalten soll, zeigt, wie schwer es ist, bereits eingeschlagene Pfade zu verlassen. „Die Diskussion hierüber ist Jahrzehnte alt“, erklärt Schüßler, „die ersten Skandale über Nike und Kinderarbeit gab es in den 90er Jahren. Seither ist zwar viel passiert, aber die meisten globalen Lieferketten sind immer noch nicht nachhaltig, weil sich an der Grundstruktur der Lieferketten nichts geändert hat.“ In einem großen internationalen Forschungsprojekt unter ihrer Leitung untersuchte die Betriebswirtin die Ursachen und Folgen des katastrophalen Einsturzes des Rana Plaza Gebäudes in Bangladesch im Jahr 2013. Bei diesem Unglück kamen 1135 Arbeitskräfte ums Leben, über 2000 wurden verletzt.
Es lohnt sich, beim nächsten Mal vor dem Kleiderschrank einen Blick auf die Etiketten zu werfen. Die allermeisten Kleidungsstücke, die man in Deutschland trägt, kommen aus Bangladesch. Hemden sowieso, aber auch Boxershorts und Socken. Schüßlers Forschungsteam untersuchte große Bekleidungsmarken aus verschiedenen Ländern ebenso wie Fabrikanten und Näherinnen aus Bangladesch und wollte wissen, was man tun kann, um ein weiteres Unglück diesen Ausmaßes zu verhindern. Das Fazit: Die Probleme sind allen in der Branche bekannt, doch Verantwortung möchte letztlich keiner übernehmen.
„Man schiebt sich den schwarzen Peter gegenseitig zu. Die Händler sagen, es liegt an den Konsumentinnen und Konsumenten. Die müssten halt aufhören, billige Bekleidung zu kaufen, dann könne man den Arbeiterinnen mehr zahlen. Andere sagen, das Problem sind die Handelsunternehmen, vor allem die großen wie Zara und H&M, die das Fast Fashion Geschäftsmodell etabliert haben und die Wegwerfmode überhaupt erst anbieten. Die Händler schieben die Schuld wiederum auf die gierigen Fabrikanten und das politische System in Bangladesch. Dass dort Gewerkschaften unterdrückt werden und die Regierung letztlich von Textillobbyisten dominiert ist und zu wenig für Arbeitssicherheit tut – ist dies ihre Schuld? Aber so einfach ist es eben nicht, weil letztlich alle Akteure in ein System eingebettet sind, das bestimmte Anreize setzt.“ Die richtige Frage ist also nicht, wer Schuld hat, sondern was man tun muss, um ein System zu verändern, das immer mehr Kleidung für immer billigere Preise auf den Markt bringt, die am Ende eigentlich niemand braucht. Jedenfalls hier sind sich alle einig: Dass an diesem System etwas nicht stimmt.
Lange wurde versucht, durch Einzelinitiativen gerechte Lieferketten und nachhaltige Produktionsmethoden zu fördern. Doch das ist nicht genug – denn die Unternehmen bewegen sich in einem hochkompetitiven Marktumfeld, in dem Gewinnmargen gering sind. Schüßler argumentiert dagegen, wie das alltagssprachlich oft getan wird, den Markt als eigenständigen Akteur zu begreifen. „Es reicht nicht, zu sagen ‚so ist eben der Markt‘, denn woher kommt denn der Markt? Wer hat denn den Markt gemacht? Der Markt ist ja nicht gottgegeben, sondern er entsteht aufgrund bestimmter Anreizsysteme, die letztlich die Politik setzt.“
Wie Neues in die Welt kommt
Wie lassen sich solche Systeme verändern? Dafür braucht es kollektives Handeln, um die Spielregeln des Marktes zu verändern. Ein Gesetz wie das Lieferkettengesetz kann ein wirksamer Mechanismus sein. „Allerdings sind auch politische Akteure wieder Teil eines sozialen Systems; Gesetze sind keine ‚deus ex machina‘.“ Hier setzt Schüßler mit ihrer aktuellen Forschung, unter anderem im Rahmen des von der VolkswagenStiftung geförderten Wissenschaftsraums „Nachhaltigkeitsgovernance globaler Wertschöpfungsketten“, an. Hier zeigt sie anhand des Lieferkettengesetzes, wie neue Gesetzesinitiativen im Prozess ihrer Entwicklung und Implementierung in bestehende organisationale Felder, und damit in bestehende Konfliktlinien und Praktiken, eingebettet werden. Die Möglichkeiten und Grenzen unternehmerischen Handelns spielen auch hier wieder eine wichtige Rolle, da privatwirtschaftliche, zivilgesellschaftliche, rechtliche und politische Akteure um die Interpretation des Gesetzes ringen und dabei nun mal existierende Pfade zwangsläufig als Ausgangspunkt nehmen.
Einen Gegenpol zu Fragen nach Pfadabhängigkeiten und festgefahrenen Systemen bildet Schüßlers Forschung zu organisierter Kreativität. Im Rahmen einer von der DFG und dem FWF geförderten deutsch-österreichischen Forschungsgruppe untersucht sie am Beispiel der Musikproduktion und der pharmazeutischen Forschung, wie das Neue in die Welt kommt. Hierbei werden kreative Praktiken im Studio oder im Labor genauso in den Blick genommen wie die institutionellen Normen und Regeln, in die diese Praktiken eingebettet sind. Doch auch hier lässt sie der Blick auf gesellschaftliche Krisenphänomene nicht ganz los. Beispielsweise ist die Antibiotikaforschung fest in bestehenden Pfaden verriegelt, Alternativen setzen sich kaum durch – nicht nur aufgrund mangelnder ökonomischer Anreize, sondern auch aufgrund von dominanten wissenschaftlichen Paradigmen. „Ein Verständnis dieser Mechanismen kann dabei helfen, bestehende Pfade zu brechen“, erklärt Schüßler ihr Erkenntnisinteresse.
Umgang mit vermehrten Krisenphänomenen
Die Antibiotikaresistenz als sogenannte „schleichende Krise“ ist nur eines von mehreren Krisenphänomenen, denen Schüßler künftig mehr Aufmerksamkeit widmen wird. Im Rahmen der Leuphana-weiten „Embracing Transformation“-Initiative verantwortet sie gemeinsam mit Prof. Matthias Wenzel das Themenfeld „Organizing in Times of Crisis“. Hier geht es darum, Organisation in einer Welt, die von zunehmenden Disruptionen geprägt ist, neu zu denken. Welche Organisationsformen sind besonders krisenanfällig? Welche Formen und Mechanismen des Organisierens können umgekehrt stabil und zuverlässig die nötige Flexibilität erzeugen, um mit vermehrten Krisenphänomenen umzugehen? Mit einer vom Aspen Institute ausgezeichneten, kollaborativen Lehrplattform zum gleichen Thema hat Schüßler hier bereits während der Corona-Krise Pionierarbeit geleistet und selbst neue Formen des Organisierens ausprobiert.
Bio
Nach ihrem Studium der Psychologie und Industrial Relations an der University of Sussex und der London School of Economics arbeitete Elke Schüßler zunächst bei einem Beratungsunternehmen in Berlin, bevor sie an der Freien Universität Berlin promovierte. Im Jahr 2012 wurde Schüßler zur Juniorprofessorin für Organisationstheorie an die Freie Universität Berlin berufen. Von 2016 bis 2023 war sie Professorin für Betriebswirtschaftslehre und Leiterin des Instituts für Organisation an der Johannes Kepler Universität Linz. 2024 wechselte die gebürtige Miltenbergerin an die Leuphana Universität Lüneburg, wo sie die Professur für BWL, insbesondere Entrepreneurship und Organisation, am Institut für Management und Organisation übernahm. Ihre Forschungsprojekte (zB „Global Garment Supply Chain Goverance Project“ oder die Forschungsgruppe „Organisierte Kreativität“) werden von der VolkswagenStiftung, der DFG und dem österreichischen FWF gefördert.
Die Forschung und Lehre der weit überdurchschnittlich publikationsstarken Professorin wurde mehrfach ausgezeichnet, darunter mit dem Academy of Management Journal Best Reviewer Award (2023), dem International Labour and Employment Relations Association Best International/Comparative IR Paper Award (2021), dem Aspen Institut Ideas Worth Teaching Award (2020), dem Academy of Management Journal Best Article Award (2015) oder dem VHB Best Paper Award (2014).
Kontakt
- Prof. Dr. Elke Schüßler