Literatur für Kinder und Jugendliche: Unerhörte Streiche, große Abenteuer

26.03.2025 In Leipzig startet in dieser Woche die Buchmesse und erweitert ihr Angebot für Kinder und Jugendliche. Warum Gedrucktes für die Alphabetisierung essentiell ist, wie Bilderbücher mehr als eine Geschichte erzählen und seit wann Kinderbücher unsere Gesellschaft transformieren, erklärt Prof. Dr. Emer O’Sullivan, Professorin für Englische Literatur, im Interview.

©Leuphana/Tengo Tabatadze
Prof. Dr. Emer O'Sullivan ist Professorin für Englische Literaturwissenschaft am Institute of English Studies an der Leuphana Universität Lüneburg.

Frau Professorin O’Sullivan, was ist aktuell Ihr Lieblingskinderbuch?

Das französisches Bilderbuch „Als Mama noch ein braves Mädchen war“ von Valérie Larrondo und Claudine Desmarteau. Ein unglaublich lustiges und schlau gemachtes Buch! Es schöpft aus dem Bilderbuch eigenen Potential als multimediales Medium: Zwischen dem was in Bild und Text erzählt wird, herrscht eine Inkongruenz. Eine Mutter berichtet ihrer Tochter, wie brav sie als Kind war. ,Natürlich habe ich mir nie einen Finger in die Nase gesteckt‘ sagt der Text. Das Bild aber zeigt in grotesk-komischer Manier die Mutter als Kind beim Bohren in gleich beiden Nasenlöchern. Dieses Prinzip zieht sich durchs ganze Buch. Der Text reagiert damit parodistisch auf die pädagogische Kinderliteratur. Er erzählt, wie das Kind sonst zu sein hat und sich korrekt verhalten soll. Das wird jedoch von den Bildern unterminiert, die zeigen, dass die Mutter alles andere als brav war. 

Können Bilderbücher also zwei Geschichten erzählen?

Genau das ist ihr Potential. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, wie Bild und Text interagieren können. Nehmen wir den berühmten Struwwelpeter, ein Buch, das von manchen Experten als schwarz-pädagogisch eingeordnet wird. In den Bildern wird die kindliche Lust am Ungehorsam gefeiert, der Text erzählt aber die Botschaft der Eltern. Gerade Kinder, die noch nicht lesen können, betrachten die Zeichnungen und verstehen, dass die Eltern ihnen etwas Anderes vorlesen als sie selbst sehen. Der Zappel-Philipp etwa sitzt mit seinen großbürgerlichen Eltern an reich gedeckter Tafel, kippelt und zieht dabei Tischtuch samt Geschirr, Wurst und Wein zu Boden. Der Junge landet darunter. Ein fast unerhörter Streich für diese Zeit! Im 19. Jahrhundert war das Gefälle zwischen Kindern und Eltern weitaus größer als heute; für die damalig lesenden Kinder wird das Unerhörte ein Lachen der Befreiung ausgelöst haben.  

Sind Kinderbücher also Spiegel ihrer Zeit?

Aus Kinderbüchern kann man das Kindheitsbild einer Gesellschaft zu einer gegebenen Zeit ablesen: was galt als akzeptabel, um es Kindern zu erzählen, was vermutete man, wieviel Kinder überhaupt verstanden oder was sie vielleicht lustig fanden. In der Kinderliteratur und den Kindermedien wird abgebildet, was eine Gesellschaft an die nächste Generation kommunizieren will. Deshalb ist Kinderliteratur nicht nur ein literatur- und medienwissenschaftlicher Forschungsgegenstand, sondern auch ein wichtiger kulturwissenschaftlicher.

Seit wann nutzen Gesellschaften Kinderliteratur dazu, die Zukunft zu gestalten?

Die tatsächlich an Kinder adressierte Literatur erscheint in West- und Nordeuropa erstmals in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, also während der Aufklärung. Das hängt auch mit dem Aufkommen des Bürgertums zusammen: Kinder wurden aus der Arbeit entlassen und es gab genug Geld, um sie auf breiter Basis zu erziehen. Nicht nur adelige, auch bürgerliche Kinder lernten lesen und wurden als Publikum entdeckt. Bis heute sind Bücher für die Alphabetisierung essentiell. Die Leseforschung kommt zum Schluss, dass vor allem Leseanfänger am meisten von Büchern profitieren. Die Materialität des Buches und die Möglichkeiten, die es für Interaktionen bietet, spielen dabei eine große Rolle.

Was haben Sie als Kind am liebsten gelesen?

Enid Blyton! 

Die Bücher erschienen in den 50er Jahren, aber werden bis heute gelesen, gehört und verfilmt. Warum ist Enid Blyton über Generationen so erfolgreich?

Enid Blyton besaß einen unbedingten Kinderblick auf die Welt. Die Geschichten haben etwas Ermächtigendes. Die Kinder lösen alle Rätsel selbst und bekommen am Ende dickes Lob von den Eltern. Es ist wichtig, dass sie von den Autoritätspersonen anerkannt werden. Aber sie sind diejenigen, die die Fälle lösen, und sie werden in Situationen gebracht, wo sie sich ohne Eltern bewähren können, wie in den klassischen Internatsgeschichten oder Ferien bei Verwandten. Denken Sie auch an Harry Potter, Peter Pan, Alice im Wunderland oder Emil und die Detektive. Das ist die große Phantasie von lesenden Kindern. Die Abwesenheit von Eltern ermöglichen Handlungen, die sonst verboten wären. Das Abenteuer kann beginnen!

Und war Enid Blyton mit der Figur von Georg nicht auch ihrer Zeit voraus?

Bei den „Fünf Freunden“ gibt es die ängstliche Anne, die mit Puppen spielt und von ihren Brüdern beschützt werden muss. Sie ist eine traditionelle, ja stereotype Mädchenfigur. Die Figur von Georg bzw. Georgina ist dagegen subversiv: Sie verhält sich wie ein Junge und will auch wie ein solcher behandelt werden. Seit rund 20 Jahren wird dieser Nonkonformismus auch von der gender-interessierten Literaturforschung erkannt.

 

Vielen Dank für das Gespräch!

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  • Prof. Dr. Emer O'Sullivan