Seevölkerrecht: Gefährliche Grauzonen

25.11.2025 Schattenflotten, beschädigte Seekabel, völkerrechtliche Unklarheit: Die Ostsee steht zunehmend im Fokus geopolitischer Spannungen. Der maritime Sicherheitsrechtler Prof. Dr. Valentin Schatz erklärt, warum Küstenstaaten rechtlich kaum eingreifen dürfen – und wie die Sicherheitsforschung auf Lösungen drängt.

©Leuphana/Marie Meyer
„Die Frage, wie wir im Rahmen rechtsstaatlicher Vorgaben unsere Sicherheit gewährleisten können, wird immer drängender", sagt Prof. Dr. Valentin Schatz.

Herr Professor Schatz, seit 2019 beraten sie das European Centre of Excellence for Countering Hybrid Threats in Helsinki zu Rechtsfragen der maritimen Sicherheit. Wie gefährdet ist der Ostseeraum derzeit?

Sehr gefährdet, allerdings handelt es sich in erster Linie um hybride Bedrohungen, also um schädliche Handlungen, die - meist von Staaten - mit böswilliger Absicht geplant und ausgeführt werden - unterhalb der Schwelle eines bewaffneten Konflikts und oft unter Verschleierung der Identität der zentralen Akteure. Maritime kritische Infrastruktur wie beispielsweise die Seekabel zwischen Finnland und Estland sind besonders exponiert. Eine Gefahr für die maritime Sicherheit stellt aber auch die sogenannte Schattenflotte dar, also Tanker, die unter Umgehung der europäischen Sanktionen russisches Öl transportieren. Gleichzeitig befinden wir uns in einer Region, in der Russland auch militärisch starke Präsenz zeigt. Die Frage, wie wir im Rahmen rechtsstaatlicher Vorgaben unsere Sicherheit gewährleisten können, wird immer drängender.

Immer wieder kommt es zu beschädigten Seekabeln. Handelt es sich um Sabotage?

Häufig kann man das gar nicht sicher feststellen. Technisch ist es erstaunlich leicht, Kabel unbeabsichtigt zu zerstören: Ein Schiff zieht einen Anker über den Meeresgrund, manchmal über dutzende Kilometer – und die dünnen Kabel reißen. Ob das Vorsatz ist oder nicht, ist im Einzelfall schwer nachzuweisen, wie jüngst eine Gerichtsentscheidung aus Finnland im Fall der Eagle S zeigte, in der das Gericht von Fahrlässigkeit ausging. Dass es in diesem Fall überhaupt zu einem Gerichtsverfahren kam, ist zudem die absolute Ausnahme: In der ausschließlichen Wirtschaftszone, in der diese Vorfälle typischerweise passieren, haben die betroffenen Küstenstaaten nach traditioneller Rechtsauffassung nämlich fast keine völkerrechtlichen Eingriffsrechte.

Warum dürfen Staaten dort nicht eingreifen?

Weil das Seevölkerrecht es verbietet. Außerhalb der 12-Seemeilen-Zone gilt grundsätzlich das Recht des Flaggenstaates, also jenes Landes, unter dem das Schiff fährt – aber nicht des Küstenstaates. Eine Ausnahme bilden Aktivitäten, die dem Küstenstaat ausdrücklich als Regelungskompetenz zugewiesen wurden - wie z.B. die Fischerei oder die Nutzung von Windenergie. Seekabel gehören nicht dazu, es sei denn, sie sind mit Infrastruktur verbunden - wie beispielsweise Stromkabel, die zu Offshore Windparks führen. Selbst wenn also ein Telekommunikationskabel in der ausschließlichen Wirtschaftszone von Deutschland beschädigt wird, das nach Deutschland führt, hat der Küstenstaat grundsätzlich kein Recht, das Schiff ohne Zustimmung des Flaggenstaates zu stoppen, zu inspizieren und gegebenenfalls festzusetzen.

Gar nicht?

Präventive Notfallmaßnahmen dürften erlaubt sein, wenn sie notwendig sind, um eine unmittelbare Gefahr für Seekabel von großer Bedeutung für den Küstenstaat abzuwenden, die andernfalls zu schweren Nachteilen führen könnte. In solchen Fällen könnte ein ausländisches Schiff auch in der ausschließlichen Wirtschaftszone gestoppt werden. Allerdings führt diese rein präventive Befugnis nicht automatisch dazu, dass bereits in der Vergangenheit liegende Beschädigungen von Seekabeln geahndet werden können, wenn die Schiffe sich nach dem Vorfall nicht freiwillig in die Hoheitsgewässer des Küstenstaates begeben. Der Küstenstaat kann dann nur versuchen, die Zustimmung des Flaggenstaats einzuholen, den Flaggenstaat selbst zu Ermittlungen zu bewegen oder die mutmaßlichen Täter über Auslieferungsgesuche nach Deutschland zu bekommen - wie im Fall der Sabotage von Nord-Stream. Diese Rechtslage führt zu einer riesigen Sicherheitslücke, wobei derzeit diskutiert wird, ob die traditionelle Auslegung der relevanten Vorschriften des Seerechtsübereinkommens nicht vielleicht zu restriktiv ist.

Welche Rolle spielt die russische Schattenflotte für die maritime Sicherheit in der Ostsee?

Eine zentrale. Sie existiert nur, weil die EU russisches Öl und Gas sanktioniert hat. Viele russische Tanker haben daraufhin ihre Flaggen gewechselt und fahren nun unter sogenannten Billigflaggen – Staaten, die oft weder Umwelt- noch Sicherheitsstandards durchsetzen. Die Schiffe sind oft alt, schlecht gewartet und nicht oder nicht nach den üblichen Standards versichert. Für Küstenstaaten bedeutet das: Ein havarierter Schattenflotten-Tanker vor der eigenen Küste kann enorme Schäden beispielsweise für Umwelt und Tourismus verursachen – und niemand haftet. Dazu kommt, dass die Betreiber dieser Schiffe häufig verschleiern, wem die Tanker und die Ladung eigentlich gehören bzw. von wem sie betrieben werden. Hierfür wechseln die Betreiber manchmal sogar täglich die Flagge oder geben bewusst falsche Registrierungen an.

Können Staaten die Durchfahrt solcher Schiffe durch ihre Hoheitsgewässer verbieten?

Nein, das ist jedenfalls nicht in pauschaler und diskriminierender Weise möglich. Das Seevölkerrecht garantiert die friedliche Durchfahrt für alle Staaten – auch für russische Schiffe. Solange die Tanker nichts anderes tun als durchzufahren, sind sie geschützt. Es wird immer wieder darüber gesprochen, die Durchfahrt für sanktionierte Schiffe zu verbieten. Aber völkerrechtlich ist das kaum haltbar, da es sich bei den Sanktionen um einseitige Maßnahmen einzelner Staaten oder der EU handelt. Wenn man auf einer solchen Grundlage sanktionierten Schiffen die Durchfahrt verweigern würde, dann wäre das eine Diskriminierung ohne Grundlage im Seerechtsübereinkommen. Zudem könnten China oder Russland sich morgen auf die gleichen Rechte berufen. Das gesamte System beruht auf Gegenseitigkeit. Etwas anderes könnte gelten, wenn von einzelnen Schiffen der Schattenflotte eine konkrete und erhebliche Gefahr für die Meeresumwelt ausginge, weil sie zum Beispiel nicht seetüchtig sind und mit einer Havarie zu rechnen ist. Ob dies - wie von manchen etwa im Hinblick auf die dänischen Meerengen argumentiert - auch bereits der Fall ist, wenn die Schiffe nicht ordnungsgemäß versichert sind, ist allerdings fraglich.

Aber es gab einen Fall in Deutschland, bei dem ein Tanker der Schattenflotte festgesetzt wurde. Was war da los?

Ja, die Eventin, ein unter panamaischer Flagge fahrendes Schiff – mit sanktioniertem Öl an Bord –havarierte vor Rügen. Es wurde daraufhin vom Zoll festgesetzt und später sogar auf die Sanktionsliste der EU gesetzt und beschlagnahmt, während es im Hafen lag. Das Finanzgericht Greifswald gab daraufhin im Eilverfahren der Eignerin recht. Derzeit liegt das Verfahren beim Bundesfinanzhof, während am Finanzgericht die Hauptsache anhängig ist. Der Fall zeigt, wie sehr europäische Staaten derzeit versuchen, Handlungsfähigkeit zu demonstrieren – auch wenn sie sich dabei manchmal rechtlich auf dünnem Eis bewegen.

Wie könnte man die Ostsee trotzdem sicherer machen?

Drei Dinge: Zum einen müssen die Seeraumüberwachung und die Kooperation zwischen den Behörden und Seestreitkräften der Anrainerstaaten der Ostsee noch weiter ausgebaut werden. Ein positives Beispiel hierfür ist die NATO-Operation Baltic Sentry, seit deren Einführung beispielsweise die Beschädigungen von Seekabeln zurückgegangen sind. 

Zweitens ist es wichtig, dass die betroffenen Staaten eine gemeinsame Rechtsauffassung erarbeiten, was den Umfang ihrer Hoheits- und Eingriffsrechte bei hybriden Bedrohungen angeht. Insbesondere eine expansivere Auslegung des Seerechtsübereinkommens verspricht mehr Überzeugungs- und Durchsetzungskraft, wenn sie einheitlich von einer größeren Zahl von Staaten vertreten wird. Zugleich muss allen Akteuren bewusst sein, dass innovative Rechtsauffassungen ein rechtliches und diplomatisches Risiko mit sich bringen. Derzeit führen die NATO-Staaten intensive Gespräche zu diesem Thema.

Drittens sollten die betroffenen Staaten ihren nationalen Rechtsrahmen darauf hin überprüfen, ob sie ihre völkerrechtlichen Befugnisse zur Abwehr hybrider Bedrohungen vollumfänglich ausschöpfen oder Lücken bzw. Verbesserungspotenzial bestehen. In vielen Ländern kann durch eine Stärkung des nationalen Straf- und Verwaltungsrechts die Handlungsfähigkeit der Behörden noch weiter verbessert werden.

Wie realistisch ist eine solche Reform?

Auf völkerrechtlicher Ebene sind Änderungen der Rechtslage schwierig, aber wünschenswert. Gerade im Bereich Seekabel herrscht eine Grauzone, die für uns Jurist*innen mehr als schwierig ist. Weltweit wird dazu aktuell intensiv publiziert, weil ein großes politisches Interesse an einer vertretbaren Lösung besteht. Auf Ebene des nationalen Rechts sind gesetzliche und verwaltungspraktische Änderungen einfacher umzusetzen, wenn der politische Wille dazu vorhanden ist. Das hat zuletzt Estland gezeigt, es hat die Eingriffsbefugnisse seiner Marine zum Schutz kritischer maritimer Infrastruktur gestärkt. Allen ist klar: Die Ostsee wird erst sicherer, wenn wir gemeinsam handeln – technisch, politisch und rechtlich.

Vielen Dank für das Gespräch!

Prof. Dr. Valentin Schatz ist Juniorprofessor für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht mit besonderem Schwerpunkt im Umwelt- und Seerecht an der Leuphana Universität Lüneburg. Im Kontext maritime Sicherheit konzentriert sich seine Forschung auf die sicherheitsrelevanten Dimensionen des internationalen Seerechts, insbesondere auf hybride Bedrohungen, maritime Kriminalität in den Bereichen Umwelt und Fischerei sowie die völkerrechtlichen Rechte und Pflichten von Flaggen- und Küstenstaaten.

Er wirkt regelmäßig an rechtswissenschaftlichen Expertisen für staatliche Behörden und internationale Institutionen mit und zählt zu den wenigen Forschern in Deutschland, die maritime Sicherheit aus völkerrechtlicher Perspektive analysieren.

Valentin Schatz ist Autor mehrerer Publikationen im Bereich maritime Sicherheit und in verschiedenen wissenschaftlichen Netzwerken zur maritimen Sicherheit aktiv. 

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