Kulturen der Kritik: Graduiertenkolleg zieht Erfolgsbilanz
01.12.2025 Nach neun Jahren intensiver Forschung, drei Generationen von Promovierenden und insgesamt 36 durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Stellen für Wissenschaftliche Mitarbeitende zieht das Graduiertenkolleg „Kulturen der Kritik“ an der Fakultät für Kulturwissenschaften positive Bilanz.
©Leuphana/Phillip Bachmann
„Wir denken bei Kritik oft zuerst an das Negative. Doch schaut man auf die Herkunft des Wortes, bedeutet Kritik vor allem Differenzierung – die Fähigkeit, zu unterscheiden, bevor man urteilt“, erläutert Prof. Dr. Beate Söntgen, Sprecherin des Graduiertenkollegs. „Kritik“ war dabei nicht nur Thema, sondern Methode: Kunstkritik, Medienkritik und Sozialkritik. Dabei ging es auch um die Frage, wie sich Kritik in unterschiedlichen Ausdrucksformen artikuliert, in Texten, in den Künsten und in Handlungen.
Mit einer Fördersumme von rund acht Millionen Euro zählt das Projekt zu den größten kulturwissenschaftlichen Initiativen der Leuphana. In jeder Kohorte betreute das Kolleg zwölf geförderte Doktorand*innen, ergänzt durch assoziierte Mitglieder. Das Ziel: jungen Forschenden ein breites Spektrum an Ansätzen, Perspektiven und Methoden bereitzustellen. Ein dichter Austausch gehörte zum Alltag – zweimal pro Woche trafen sich die Kollegiat*innen, diskutierten aktuelle Arbeiten und reflektierten ihre Forschungsstände.
Besonderes Augenmerk lag auf der Frage, wie Darstellungsweisen den Gegenstand der Kritik prägen. Bilder, Texte, Medien – sie alle können problematische Zustände sichtbar machen oder Alternativen entwerfen. „Gerade die Kunst hat die Fähigkeit, Gegenentwürfe zu formulieren, utopische Welten zu entwerfen und gesellschaftliche Zusammenhänge sichtbar zu machen“, erklärt die Professorin für Kunstgeschichte.
Ein Beispiel: die Doktorarbeit von Isabel Mehl widmete sich dem Konzept der „Critical Fiction“: Die Schriftstellerin und Kritikerin Lynn Tillman wurde in den 1980er-Jahren von Art in America eingeladen, eine Renoir-Ausstellung zu rezensieren. Statt klassischer Kritik erfand sie die Kunstfigur „Madame Realism“, die als Museumsbesucherin gesellschaftliche Perspektiven, Beobachtungen und Fragen in den Museumsraum hineinträgt. Die Doktorandin analysierte dieses Spiel zwischen Fiktion und Kritik.
Auch medienkritische Perspektiven waren vertreten. Der aus Syrien stammende Saad Mtry untersuchte, wie sich in sozialen Medien – teilweise anonym – in Krisenmomenten neue Formen des Widerstands und der Kritik entwickeln.
In den späteren Kolleggenerationen rückten Klimafragen, Postkolonialität und Queerness stärker in den Fokus. Dyoniz Kindata, Doktorand aus Tansania, untersucht deutsche koloniale Zeitschriften. Volha Davydzik widmet sich Widerstandsformen in Belarus, Stasya Korotkowa dem gender crossing im russischen Stummfilm – oftmals begleitet von mühsamer Archivrecherche, da viele Filmquellen verloren sind.
Zuletzt wurden zwei Kollegiaten mit Preisen ausgezeichnet: Melcher Ruhkopf mit dem Förderpreis Maritimes Kulturerbe für seine Dissertation „Das Logistische Museum. Museen des Seehandels als Infrastrukturen der Kritik“. Er untersuchte, wie maritime Museen in Hamburg Kolonialgeschichte sichtbar machen können. Statt allein Schiffe und technische Errungenschaften in den Mittelpunkt zu stellen, gehe es darum, auch problematische Aspekte anschaulich zu machen. Thorsten Schneider erhielt für seine Dissertation, die die Ideologiekritik in der deutschsprachigen Kunstgeschichte um 1968 untersuchte, den Dissertationspreis der Leuphana.
Das Kolleg war international ausgerichtet, berichtet Beate Söntgen: „Exkursionen führten nach London, Utrecht, Brasilien, Südafrika und Tblissi – stets in Kooperation mit Forschenden und Institutionen vor Ort.“ Neun Tagungsbände entstanden in den vergangenen Jahren, an deren Publikation die Doktorand*innen maßgeblich beteiligt waren.
Viele der ehemaligen Kollegiat*innen arbeiten heute in Wissenschaft, Kulturmanagement, Museen oder Forschungseinrichtungen. Die breite interdisziplinäre Ausbildung erweist sich als großer Vorteil – und wirkt inzwischen nachhaltig in die Universität hinein: Inhalte und Konzepte des Graduiertenkollegs sind in Studiengänge wie „Kritik der Gegenwart“, in Lehrangebote der Fakultät eingeflossen und wirken mit Professor*innen im LIAS fort.
Kontakt
- Prof. Dr. Beate Söntgen