"Die Deutschen sind von sich selbst befreit worden" - Plädoyer für die europäische Integration, die Stärkung des Völkerrechts und das Existenzrechts Israels

"Ethik im Gespräch" - Diskussion über den 8. Mai und den Begriff der Befreiung

14.05.2025 „Der 8. Mai 1945 war nicht nur ein Tag der Niederlage, sondern auch ein Tag der Befreiung.“ Mit diesem Satz prägte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker die Erinnerungskultur in Deutschland. Als er das sagte, waren der Krieg und die nationalsozialistische Gewaltherrschaft 40 Jahre vorüber. Inzwischen sind weitere 40 Jahre vergangen. Deutschland und Europa erinnern an das Kriegsende vor 80 Jahren. An der Leuphana Universität Lüneburg hat die Veranstaltungsreihe ETHIK IM GESPRÄCH dieses Thema aufgenommen. Am 8. Mai diskutierten der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Tobias Lenz und der Theologe Prof. Dr. Thomas Kück über das Ende von Krieg und NS-Herrschaft als eine Befreiung. Aber: Wovon und wozu wurden die Deutschen befreit? Das Interesse war groß. Der Hörsaal 5 war voll besetzt mit Studierenden und Persönlichkeiten aus der Stadtöffentlichkeit.

©Leuphana/Tengo Tabatadze
©Leuphana/Tengo Tabatadze
©Leuphana/Tengo Tabatadze

Laut einer Umfrage der ZEIT vom 27. März wünsche sich über die Hälfte der deutschen Bevölkerung ein Ende der Vergangenheitsdebatten, zumal es nach Meinung einer Mehrheit der Befragten nur wenige NS-Verbrecherinnen und Verbrecher gegeben habe und die Mehrheit ohnehin keine Schuld träfe. „Also einen Schlussstrich ziehen, weil die meisten Leute schuldlos waren – wenn das so wäre, wovon sind die Deutschen dann befreit worden?“ stieg Thomas Kück provokant in die Diskussion ein. Er hinterfragte zugleich, ob überhaupt von einer gesamtdeutschen Befreiung gesprochen werden könne, wenn die unterschiedlichen historischen Entwicklungen in Ost- und Westdeutschland berücksichtigt werden. „Die unzähligen Frauen im Osten Deutschlands haben die barbarische Gewalt, die sie erleiden mussten, sicher nicht als Befreiung erlebt.“

Tobias Lenz vertrat die Auffassung, dass Deutschland tatsächlich am 8. Mai 1945 mit Ende des Krieges und in den darauffolgenden Jahren vom Faschismus befreit wurde, und zwar nicht aus sich selbst, sondern durch die Alliierten. „Aber damit hat die Geschichte nicht geendet, sondern im Grunde hat sie damit erst begonnen, und das ist durchaus eine Erfolgsgeschichte geworden. Insbesondere auch aus deutscher Perspektive.“ Zugleich hob er hervor, dass die Welt damals auch von Deutschland befreit worden sei, und zwar von einer seit dem Kaiserreich anhaltenden Großmannssucht. „Heute wird von Deutschland erwartet, sich international stärker einzubringen, auch militärisch. Das ist paradox, verglichen mit dem Ende des Krieges.“ Das Streben nach einer Vorherrschaft in Europa wurde durch die Befreiung von der NS-Herrschaft sowie das Einbinden Deutschlands in europäische Strukturen unterbunden und ermöglichte gleichzeitig die Entwicklung einer Demokratie. Daraus ergab sich eine dreiteilige Verantwortung Deutschlands in der Welt: „Das ist zum einen die Verantwortung für die europäische Integration, zum anderen ein Einstehen für das Völkerrecht und schließlich das Eintreten für das Existenzrecht Israels.“

Thomas Kück stimmte dieser These zu, insbesondere dem Eintreten für das Existenzrecht Israels, so schwierig diese Haltung in der aktuellen Lage auch sei. Und er ergänzte die politische Außenperspektive um eine psychoanalytische Innensicht: „Die Deutschen sind in allererster Hinsicht von sich selbst befreit worden, und zwar von dem dämonisch Bösen, zu dem sie unter den Bedingungen der Diktatur befähigt wurden.“ Damit griff er die tiefgehenden und zugleich subtilen Verstrickungen unzähliger Menschen in das NS-System auf. Mit dem Verweis auf das Buch „Der blinde Fleck“ von Stefan Lebert und Louis Lewitan ging er auf vererbte Traumata und deren Verdrängung ein, die in der Enkel- und Urenkelgeneration jetzt ans Licht gebracht werden. Einen weiteren Akzent setzte Kück mit der These: „Die Deutschen sind zu sich selbst befreit worden, damit sie unter den Möglichkeiten der Demokratie zu einem Leben in mehr Gerechtigkeit und mit mehr Frieden und mit mehr Freiheit beitragen.“

Die anschließende lebhafte Diskussion mit dem Publikum thematisierte, dass Befreiung im Kontext des Krieges auch ein gewaltsamer Akt gewesen sei, ein Ereignis, das viele nicht als Befreiung begreifen konnten, besonders nicht in Ostdeutschland. Hier dürfe die Sichtweise nicht nur westlich sein. Zugleich aber könne der 8. Mai 1945 als der Beginn eines jahrelangen Prozesses der Befreiung verstanden werden kann. Ein zentrales Thema war zudem die Frage nach der heutigen Verantwortung der studentischen Generation. „Die erste Verantwortung, die wir tragen, ist die des Erinnerns, individuell, aber auch kollektiv. Daraus ergibt sich eine gewisse Bescheidenheit und ein Streben nach Interessensausgleich“, sprach der Politikwissenschaftler zum Ende der Aussprache.