„Die Minderheit sollte nicht immer die Pflicht haben, sich der Mehrheit anzupassen“ - Vicky Temperton im Interview

08.07.2021 Was bedeutet es Professorin zu sein? Vicky Temperton, Professorin für Ecosystem Functioning & Services, erzählt im Interview, welchen Weg sie gegangen ist, welche Förderungen ihr geholfen haben und was sie sich für junge Wissenschaftler*innen wünscht.

Prof. Dr. Vicky Temperton ©Leuphana
Vicky Temperton ist Professorin für Ecosystem Functioning & Services an der Fakultät Nachhaltigkeit.
Wie ist es für Sie als Professorin zu arbeiten? Was nehmen Sie als positiv wahr und welche besonderen Herausforderungen sehen Sie als Frau in Ihrer täglichen Arbeit?  
Ich liebe die Kreativität und Freiheit, die man als Professorin hat. Ich war schon immer ein sehr frei denkender Mensch, ich war philosophisch und habe viel über die Natur nachgedacht. Ich wusste, dass ich in der Ökologie arbeiten und die Feinheiten der Natur besser verstehen wollte, und ich war sehr neugierig darauf, wie die Natur funktioniert und wie der Mensch in dieses Schema passt. Also habe ich während meines Studiums versucht herauszufinden, welcher Beruf das sein könnte. Ziemlich schnell kam ich in den akademischen Bereich, wo ich frei war so neugierig zu sein wie ich wollte, Fragen an die Natur zu stellen und Antworten mit wissenschaftlichen Methoden zu finden. Ich hatte einen Mentor an der Universität von York, Jonathan Graves, der andeutete, dass ich in der wissenschaftlichen Forschung großartig sein würde. Er hat maßgeblich dazu beigetragen mich auf den Weg zu bringen, Professorin zu werden. Ich denke, es ist extrem wichtig für den Erfolg, ob man erfahrene und einflussreiche Leute im Rücken hat. Und ich habe das Gefühl, dass Männer das immer noch häufiger haben als Frauen. Ich hatte das Glück, dass ich als Studentin diese Mentoren hatte, sonst weiß ich nicht, ob ich den akademischen Weg eingeschlagen hätte. In meiner täglichen Arbeit merke ich, dass ich in manchen Situationen immer noch die einzige Frau bin, z.B. bei manchen reinen Professorentreffen. Es verändert die Dynamik und die Art Dinge zu tun, wenn andere Frauen oder andere nicht-dominante Gruppen dabei sind.
Wenn Sie auf Ihre Karriere zurückblicken, gibt es Bereiche oder Themen von denen Sie sagen können, dass sie sich in Bezug auf die Geschlechterdiskriminierung verändert haben? Also hauptsächlich zum Besseren, aber möglicherweise auch zum Schlechteren?
In der Vergangenheit gab es oft eine (bewusste oder unbewusste) Voreingenommenheit in Bezug darauf, wer zu Vorträgen an verschiedenen Instituten und Keynotes auf Konferenzen eingeladen wird, sowie bis zu einem gewissen Grad auch darauf, wer zur Mitarbeit an großen oder prestigeträchtigen Forschungsprojekten eingeladen wird. Man neigt immer noch dazu mehr Männer als Frauen einzuladen. Das ändert sich derzeit in einigen Bereichen. Es gibt gegenwärtig, befeuert durch die MeToo- und Black-Live-Matter-Bewegung, einen Vorstoß, diese Voreingenommenheit zu vermeiden, und man versucht bewusst, die Liste der eingeladenen Redner zu diversifizieren, so dass es mehr Frauen, PoC oder LGBTI-Perspektiven gibt. Professor Franciska de Vries, eine inspirierende niederländische Bodenökologin, hat eine Website für Bodenökologen mit einer Liste von brillanten Frauen in diesem Bereich eingerichtet, damit es keine Ausreden wie "Wir konnten keine Frauen finden, die wir für eine Keynote einladen konnten" geben kann.
Gab es Herausforderungen oder schwierige Momente in Ihrer Karriere, von denen Sie annehmen, dass Sie sie nicht - oder anders - erlebt hätten, wenn Sie ein Mann gewesen wären?
Was in der Lehre oft passiert, ist, dass Frauen als "nett" beschrieben werden und ihre "weicheren" Eigenschaften wahrgenommen werden, während Männer das Etikett bekommen, viel über ihr Fachgebiet zu wissen. Manchmal bekommen Frauen weniger positive Bewertungen als Männer für ein ähnliches Niveau der Lehre. Ich kämpfe ein wenig mit diesen klassischen Erwartungen und bemerke sie regelmäßig sowohl allgemein als auch auf mich selbst angewandt.
Was denken Sie, ist eine spezielle Förderung für Frauen in der Wissenschaft sinnvoll? Gibt es dafür einen Bedarf?
Ich denke, eine spezielle Förderung für Frauen in der Wissenschaft ist definitiv sinnvoll, ja. Allerdings ist die Sensibilisierung für die Realitäten von Menschen, die sich in einer Minderheitensituation befinden, der Schlüssel zur Schaffung von mehr Gleichberechtigung sowohl in Bezug auf das Geschlecht als auch auf die Vielfalt. Die Minderheit sollte nicht immer die Pflicht haben, sich der Mehrheit anzupassen.  Wir hatten kürzlich einen Workshop in der Fakultät für Nachhaltigkeit zum Thema Anti-Bias-Training, der faszinierend und sehr nützlich war. Idealerweise würden ebenso viele der männlichen Professoren an solchen Workshops teilnehmen wie die weiblichen, denn der Zuwachs an Gleichberechtigung ergibt sich aus dem Zusammenspiel dieser Diskussion und dem Bewusstsein für die Problematik. Der Sinn eines solchen Trainings ist es nicht, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen, sondern das Bewusstsein zu schärfen und zu helfen, das Spielfeld auszugleichen.
Ich denke, dass es sehr wichtig ist, das Bewusstsein dafür zu schärfen, welches die Stolpersteine für Minderheiten (einschließlich Frauen) sind und welche Aspekte bewusst sind, aber auch zu erkennen, wie viele Komponenten unbewusst sind. Selbst Frauen können gegenüber anderen Frauen voreingenommen sein. Zudem sind Dinge wie die Website von Franciska de Vries extrem hilfreich für Leute, die Konferenzen organisieren um sicherzustellen, dass es ein Gleichgewicht zwischen Männern und Frauen gibt und um zu erkennen, dass es nicht "normal" ist, nur weiße Männer sprechen zu lassen. Mit Blick auf die finanzielle Förderung halte ich es für wichtig, besonders Frauen zu unterstützen, die z.B. ihre Promotion abschließen oder sich in der Postdoc-Phase ihrer Karriere befinden. Denn oft ist es immer noch so, dass Frauen, die Kinder haben, die größere Last der Betreuungsarbeit tragen, und dazu kommt, dass die Zahl der Frauen, die in der Wissenschaft bleiben, nach der Promotionsphase drastisch abnimmt (Leaky-Pipe-Syndrom).  Ab diesem Zeitpunkt verlieren wir die meisten Frauen aus dem System. Dafür gibt es viele Gründe, die ich hier nicht weiter ausführen kann, aber einer davon ist, dass wir erst einmal ein System schaffen müssen, in dem sich Frauen und andere Minderheiten wohl fühlen und an dem sie teilhaben wollen. Vorbilder sind wichtig, ebenso wie verschiedene Formate, um produktiv zu sein und Arbeit und Leben zu vereinbaren.
Von welchen Förderinstrumenten haben Sie persönlich profitiert?   
Wovon ich wirklich profitiert habe, war die Möglichkeit einer Tenure-Track-Nachwuchsstelle am Forschungszentrum Jülich, einem Helmholtz-Forschungszentrum, wo ich in den Pflanzenwissenschaften gearbeitet und meine eigene Forschungsgruppe aufgebaut habe. Ich sah diese Ausschreibung, als ich als Postdoc in Jena war und wusste sofort, dass ich mich darauf bewerben musste. Man musste einen Antrag für eine eigene Nachwuchsgruppe schreiben und es war Tenure Track, was bedeutet, dass man, wenn man die Stelle bekommt und positiv evaluiert wird, eine feste Stelle hat, auf der man ein starkes Forschungsprofil aufbauen kann. Dieses Programm richtete sich (damals) speziell an Frauen, und es war ein Wendepunkt für mich, denn man braucht die Sicherheit, um in seiner Kreativität den Höhepunkt zu erreichen. Wenn man diese Sicherheit hat, kann man sich auf das konzentrieren, worauf man sich eigentlich konzentrieren sollte, nämlich auf die kreative Wissenschaft und die Lehre. Sonst ist man schnell abgelenkt und fragt sich, wie es weiter geht.
Welche Förderinstrumente würden Sie sich für Ihre (weiblichen) Doktoranden und Postdocs wünschen?
Ich halte das Wissenschaftszeitvertragsgesetz für problematisch: Dieses Gesetz sollte eigentlich helfen, eine feste Stelle in der Wissenschaft zu bekommen, aber letztlich schafft es große Unsicherheiten, eine begrenzte Anzahl von befristeten Verträgen und wenn man sechs Jahre nach der Promotion keine feste Stelle hat - was meistens eine Professur bedeutet - hat man keine Chance, in Deutschland in der Wissenschaft zu bleiben. Das Gesetz muss an die Realitäten in der Wissenschaft angepasst werden - oder wir müssen ändern, wie die Universitäten Dauerstellen vergeben und finanzieren.
Wir verlieren im Moment eine Menge brillanter Leute, weil es außer den wenigen Professuren nicht genügend feste Stellen in der Wissenschaft gibt. Wir bräuchten mehr Stellen im akademischen Mittelbau - die helfen Forschungsgruppen zu leiten, zu lehren und den Betrieb zu führen. Ich denke, die Programme ProViae und ProScience hier an der Leuphana sind hervorragende Möglichkeiten, junge Wissenschaftler*innen sowohl auf eine Karriere in der Wissenschaft als auch auf ein Leben außerhalb der Wissenschaft vorzubereiten - aber wenn es zu wenige feste Stellen außer den Professuren gibt, bedeutet das, dass wir brillante Leute ausbilden, nur um sie (oft) im Stich zu lassen und ihre Expertise an Organisationen und Unternehmen außerhalb der Wissenschaft zu verlieren. Ich bin der Meinung, dass es einen Weg geben muss, dies wieder in ein besseres Gleichgewicht zu bringen.

Am 13. Juli 2021 findet das digitale Salongespräch zum Thema „Berufung zum Traumjob - Women's path to professorship“ statt. Professorinnen der Leuphana geben Einblicke in ihre Karriereverläufe sowie ihre damit verbundenen Tätigkeiten und Aufgabenbereiche. Das Salongespräch bietet Raum für den Austausch zu beruflichen Perspektiven von Promovendinnen und Postdoktorandinnen und soll Frauen motivieren, den Weg in die Professur zu gehen. Diese bilinguale Veranstaltung findet im Rahmen der Summer School „How many roads...?“ statt und ist nur für Frauen geöffnet. Es handelt sich um eine Kooperation zwischen Graduate School und den Mentoring-Programmen ProScience und ProViae. Die Anmeldung zum Salongespräch ist bis zum 10. Juli 2021 möglich.