Die Angst vor dem Altern

Deutschland geht es wirtschaftlich gut, das wird immer wieder betont. Trotzdem fürchten sich viele Menschen vor dem Schreckgespenst Altersarmut. Aber ist diese Angst wirklich begründet?

Ein Feature von Lisa-Marie Peemöller. 

Die Zahl der Altersarmut steigt ©Pixabay/eberhard grossgasteiger
Die Zahl der Altersarmut steigt

Gudrun Schneider (Name geändert) betritt schweren Herzens das Backsteinhaus der Lüneburger Tafel. Der Zeiger einer Uhr an der Wand im Flur steht auf kurz vor 11 Uhr. Gleich geht es los – die Essensvergabe. Ein Mitarbeiter kommt Gudrun entgegen und reicht Ihr einen kleinen Zettel – Nummer 54. „Setzen Sie sich gerne hin, wir rufen die Nummern auf.“ Für ihn ist das Alltag. Für Sie nicht. Die Rentnerin ist zum ersten Mal hier. Sie nickt und schaut sich um, ein schmaler enger Flur führt in ein Wartezimmer, es ist voll. In einer Ecke spielen mehrere ältere Männer ein Kartenspiel und lachen herzlich. Ihr ist das alles eher unangenehm. Doch ihre Rente ist klein. Im Monat erhält sie knapp 700 Euro netto. Das ist nicht viel. Sie setzt sich neben eine ältere Dame und schwelgt in Gedanken. Wie konnte es so weit kommen? 

So wie Gudrun leben heute insgesamt 3,1 Millionen Menschen in Deutschland in relativer Altersarmut. Bis zu dem Jahr 2030 wird die Zahl laut einer Prognose des Deutschen Instituts für Altersvorsorge auf 4,4 Millionen ansteigen. Schuld daran sei die längere Lebenserwartung und die demografische Entwicklung. Als armutsgefährdet gilt laut allgemeiner Definition der Europäischen Union, wem weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung zur Verfügung steht. Bei einem Ein-Personen-Haushalt sind das 1.035 Euro monatlich.

Ursachen der Altersarmut 

Für das Rutschen in die Altersarmut gibt es unterschiedliche Auslöser. Thomas Wein, Professor für Wirtschaftspolitik an der Leuphana Universität, berichtet von den beiden Hauptproblemen. Die geringen Erwerbsminderungsrenten zählen zu einem wesentlichen Faktor der Altersarmut. Der Fall, dass man aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr imstande ist zu arbeiten, kann jederzeit eintreffen. „Die Rente für die Betroffenen liegt hier bei einem Durchschnitt von 700 bis 800 Euro. Das ist meiner Meinung nach viel zu wenig. An der Stelle sehe ich einen akuten Handelsbedarf“, fügt Wein hinzu. „Auch unterbrochene Erwerbsbiografien stellen ein zentrales Problem der Altersarmut dar.“ Um dem entgegenzuwirken, sei es wichtig die Arbeitsmarktintegration und Qualifikation mehr zu fördern. 

Thomas Cirsovius von der HAW Hamburg ergänzt: „Sehr viele Frauen haben während der Kindererziehungszeit Lücken in Ihrer Erwerbsbiografie. Dabei wird die Kindererziehungszeit heute bereits erfreulich stärker zugunsten der zukünftigen Rentnerinnen berücksichtigt, aber es reicht immer noch nicht aus.“

Heute zahle ich die Rechnung dafür

Auch Gudrun gehört zu einer dieser Frauen. Neben der Betreuung Ihres behinderten Kindes half sie bei Ihrem damaligen Mann im Versicherungsbüro aus. „Wenn man verheiratet ist, gibt man sich nicht viel. Heute zahle ich die Rechnung dafür“, erzählt sie. Nach der Trennung war Sie in der Seniorenbetreuung tätig, bis Ihr Rücken nicht mehr mit machte. Vor Kurzem konnte Sie noch von Ihrem angesparten Geld leben, jetzt sind Ihre Rücklagen aufgebraucht. „Wenn es mir gesundheitlich noch gut gehen würde, könnte ich mir sogar vorstellen mit meinen stolzen 70 Jahren als Reinigungskraft zu arbeiten..“ Doch das wäre für Gudrun zu anstrengend. Gerade deswegen benötigt Sie die Unterstützung der Tafel so dringend. 

Seit 2007 hat sich der Zuwachs der Rentner bei den Tafeln laut eigenen Angaben fast verdoppelt. Cirsovius fordert: „Um das System der Altersversorgung zu stabilisieren, ist es meiner Meinung nach wichtig Beamte, gut gestellte Freiberufler und Selbstständige in die gesetzliche Rentenversicherung zu integrieren.“ Denn „die Altersarmut wird zunehmen, wenn keine Korrektur des Systems vorgenommen wird“, sagt er. Das betreffe in Zukunft vor allem die Teilgruppen von Ostdeutschen, Geringqualifizierten, Migranten und Geringverdienern. Helfen könne auch Zuwanderung. „Wenn es uns gelingen sollte, 80 Prozent der Migranten in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse einzubinden, wäre das Problem massiv entschärft“, betont er weiterhin. 

Geplante Grundrente bietet keine Lösung 

Abhilfe für Rentner wie Gudrun könnte die geplante Grundrente, welche im Januar 2021 eingeführt werden soll, schaffen. Doch Wein hält diese für „zu wenig zielgerichtet. Die wirklich bedürftigen Menschen, wie solche mit einer lückenhaften Erwerbsbiografie und Erwerbsminderungsrenten, würden die Grundrente nicht erhalten. Denn sie erfüllen die Mindestzeiten nicht.“ Somit würden die beiden Hauptfaktoren der Altersarmut nicht bekämpft, es würde lediglich den Menschen geholfen, welche für wenig Geld ihr ganzes Leben gearbeitet haben. 

Mit drei vollen Beuteln gefüllt mit Brötchen, Joghurt,  Gemüse, Obst und einer Sorge weniger verlässt Gudrun die Lüneburger Tafel. Eigentlich wollte sie gar nicht herkommen. „Das war eine schwierige Entscheidung, aber die richtige“, sagt sie. In der nächsten Woche wird Sie wiederkommen. Denn das Geld bleibt knapp.

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