Elfis Europa: Wie eine Österreicherin Grenzen hinter sich lässt

Wohlstand bedeutet Freiheit. Freiheit zu arbeiten, was man möchte, zu leben, wo man möchte, zu lieben, wen man möchte. Aber diesen Wohlstand gab es nicht schon immer und es gibt ihn auch heute nicht überall. Dies ist das Portrait meiner österreichischen Großmutter. Es erzählt ihr Leben in Österreich, Frankreich und Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg.

Ein Portrait von Julie Hervé.

Elfi H. im Portrait ©Julie Hervé
Elfi H. im Portrait

Wohlstand bedeutet für mich, nicht reich zu sein, aber ein Auskommen zu haben. Heißt also im Angestelltenverhältnis, freiberuflich, bäuerlich... Bürgerliche Freiheit natürlich, Freizügigkeit. Solange man es selber bezahlen kann, überall hinzufahren, wo man will. Und das Element von Zufriedenheit, das kommt dann natürlich auch noch irgendwo dazu.

Wohlstand bedeutet Freiheit. Freiheit zu arbeiten, was man möchte, zu leben, wo man möchte, zu lieben, wen man möchte. Aber diesen Wohlstand gab es nicht schon immer und es gibt ihn auch heute nicht überall.

Das Europa nach dem Zweiten Weltkrieg ist geprägt vom Drang nach wirtschaftlichem Aufschwung. Wohlstand für alle ist die Devise, ebenso der Wunsch nach Selbstverwirklichung, mit immensem Tatendrang. Es ist eine Zeit der Ideenvielfalt, des Gründerzeit-Booms.

All das ist stark verknüpft mit Arbeit und Geld, um überhaupt erstmal ein lebenswertes Leben zu erreichen. Eine Existenz zu sichern. 

Dies ist das Portrait einer Frau, welche zu dieser Zeit aufwächst und ihr Leben in drei zentraleuropäischen Ländern verbringt. Drei Länder mit unterschiedlicher Herangehensweise, doch demselben Streben nach Wohlstand.

Elfi H. wird 1949 in Molln in Oberösterreich geboren. 

Die Bevölkerung Österreichs lebt in den 50er und 60er Jahren bescheiden. Zumindest in den nicht touristischen Regionen.  Elfis Mutter hat ein Haus mit einem Hektar Grundstück im Voralpengebiet. Das Abitur (österreich. Matura) kann sie nicht machen, weil es zu lange dauert und sie hinterher immer noch nichts Richtiges in der Hand hätte. Schließlich sind Zuhause bei den Eltern noch drei weitere Kinder. Taschengeld gibt es nicht und Elfi H. möchte gerne auf die Hotelfachschule.

Mein Vater arbeitete 48 Stunden die Woche in einer Fabrik. Meine Mutter arbeitete über 60 Stunden die Woche und hatte nur einen Sonntag im Monat frei. Aber wir waren nicht arm.

Ihr Gehalt reicht gerade mal um der Tochter die Ausbildung zu bezahlen. Elfi H. geht also zunächst nach Salzburg und dann 1966 für ein Praktikum in die Bretagne, Frankreich.

Da habe ich dann meinen späteren Mann kennengelernt. Österreich war damals noch nicht in der Europäischen Gemeinschaft, deshalb hatten wir zunächst große Schwierigkeiten zu heiraten.

1967 bekommt Elfi H. ihr erstes Kind und kehrt zurück nach Österreich, um die Hotelfachschule abzuschließen.

Der Wohlstand in Österreich baut vor allem auf Tourismus. Tourismus,  das schafft Arbeitsplätze und internationale Begegnungen. Die Menschen sind aufgeschlossen und arbeiten viel.

Yvon H. ist Franzose und bekommt in Österreich zunächst keine Arbeitsgenehmigung. Zur Wintersaison 1967/68 nimmt er Arbeit in einem Luxushotel in Bad Gastein auf, vorbehaltlich einer Arbeitsgenehmigung, welche er jedoch nie erhält. Nach drei Wochen muss er aufhören zu arbeiten.

Einige Wochen später erhält Yvon H. einen Brief, er müsse das Land verlassen, sonst würde er zwangsausgewiesen. Und das, obwohl seine Frau und sein Kind in Österreich leben.

Die Familie zieht wieder nach Frankreich. 

In Frankreich besteht ein starkes Gefälle zwischen den wohlhabenden Menschen, den Landwirt*innen und den Arbeiter*innen, die dorthin gehen müssen wo gerade Arbeit ist. Frankreich setzt auf Industriebetriebe und lehnt jede Unterstützung von außen ab.

Wohlstand durch Unabhängigkeit ist das Ziel. Doch dies geschieht nur langsam. Der Vietnamkrieg, der Algerienkrieg, Frankreich hinkt hinterher. 

1971 zieht Elfi H. nach Berlin. Sie findet Arbeit. Yvon H. kommt nach.

Wohnungssuche war überall schwierig. Wir waren jung und unser ganzer Reichtum waren zwei Kinder.

In Berlin hatten die Leute Angst vor den Russen. Denn die Stadt war umzingelt von einer halben Million Russen. Die meisten Leute, die international tätig waren, sind gar nicht erst nach Berlin gekommen, weil sie in Westdeutschland mehr verdienen konnten und geringere politische Risiken sahen. Berlin war arm.

Die durch die Alliierten besetzte Bundesrepublik profitiert vom Marshall-Plan, der wirtschaftlichen Aufschwung bringt. Amerikanische Kredite sollen die deutsche Wirtschaft unterstützten. Beruht Deutschlands Wohlstand im Gegensatz zu Frankreich auf Abhängigkeit?

Elfi H. beschließt, in die Industrie zu gehen. Durch ihre Sprachkenntnisse findet sie interessante Aufgaben im Export und verdient gut. 

Yvon H. findet Arbeit im Palace Hotel am Europa Center, verdient sehr wenig. Später arbeitet Yvon H. für das französische Militär. Daher zieht die Familie 1980 mit mittlerweile drei Kindern in die Cité Foch. Klein-Frankreich in Berlin, wo die Gebäude Deutschland gehören, doch für französische Militärangehörige und Zivilangestellte gebaut wurden.

Hier herrscht ein leicht höherer Wohlstand als im restlichen Berlin. 

Frankreich sorgt dafür, dass es den im Ausland stationierten französischen Bürger*Innen an nichts mangelt.  

In der Nachkriegszeit verbessern sich in allen drei Ländern nach und nach die Arbeitsbedingungen durch soziale Errungenschaften. In den darauffolgenden Jahrzehnten wächst Sicherheit, Wohlstand und Freiheit in der Familie. Wohlstand basierend auf viel Arbeit. Entsprechend dem System. 

Den Wohlstand, den wir heute haben, den hatten wir damals nicht. Früher mussten wir an allen Grenzen zwischen den Ländern halten. Und wir mussten Geld tauschen. Heute fahren wir durch und merken gar nicht, dass wir das Land wechseln. Wir können uns heute überall niederlassen, ein Business aufmachen zum Beispiel. Früher waren wir nicht so frei. Wir haben gearbeitet, um Geld zu verdienen und uns ein Leben leisten zu können.

Europa geprägt von Grenzen. Berlin geprägt von Grenzen. An Wohlstand im Sinne von Freiheit und Unabhängigkeit, ist zumindest in Deutschland vor 1990 nicht zu denken.

Wenn der Wohlstand von damals für die Menschen von damals, Arbeit bedeutete, was bedeutet Wohlstand von heute, für Menschen von heute?

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