Wem schulden wir was?

Warum sollte ich meinen Wohlstand mit anderen teilen und welche moralischen Verpflichtungen stehen dahinter? Ein Denkanstoß.

Ein Essay von Lia Springer.

Wieso fühlen wir uns Anderen gegenüber schuldig? ©Pexels, James Frid
Wieso fühlen wir uns Anderen gegenüber schuldig?

Wem schuldest du noch etwas? Ob dir kürzlich jemand ein Bier ausgegeben hat, du eine Wette verloren hast oder ein Kommilitone die Kommasetzung deiner Hausarbeit kontrolliert, wahrscheinlich gibt es Dinge, die du bestimmten Menschen zurückzahlen oder wiedergeben möchtest. Aber wie sieht es damit aus, wenn man die Frage skaliert? Schulden wir es Obdachlosen, ihnen etwas von unserem Wohlstand abzugeben? Trägt der globale Norden Schuld an der prekären Lage in vielen Ländern des globalen Südens?

Fangen wir mit einem philosophischen Exkurs zum Thema an: Schuld ist ein soziales Konzept, das aus Regelverstößen heraus resultiert. Die Regeln, gegen die verstoßen wurde, können moralischer oder gesetzlicher Natur sein. Außerdem kann Schuld sowohl fahrlässige als auch bewusst begangene Regelverstöße betreffen. Der Gedanke der Kollektivschuld wird hingegen von vielen abgelehnt. Es sind also jeweils nur die Personen schuldig, die tatsächlich verantwortlich waren.

Schuld resultiert aus einer nicht wahrgenommenen Verantwortung eines oder mehrerer Individuen. Die Frage, inwieweit wir als Menschen also schuldfähig sind, ist weitgehend davon abhängig, ob der menschliche Wille frei oder unfrei ist – eine der großen philosophischen Fragen der letzten Jahrhunderte, auf die es, vereinfacht gesagt, zwei Blickwinkel gibt: Determinismus oder Indeterminismus.

A + B = C

Wir treffen jeden Tag viele verschiedene Entscheidungen. Kaffee oder Tee zum Frühstück? In die Uni oder wieder ins Bett? Jogginghose oder Jeans? Diese Entscheidungen nehmen wir als freiwillig wahr, auch, wenn es für jede Entscheidung andere Beweggründe gibt.

Das Prinzip von Ursache und Wirkung steht dem scheinbar entgegen: Wenn jede Handlung andere Ereignisse auslöst, gibt es keine freien Entscheidungen. Die daraus resultierende Position ist der Determinismus. Jede Handlung ist nur Reaktion auf unsere Umwelt, jede Entscheidung ist bereits von vornherein getroffen, und aus jeder möglichen Ausgangssituation A muss sich das entsprechende Ergebnis B ergeben. Ein Ergebnis C würde andere Umstände und Voraussetzungen benötigen.

Nach dem französischen Deterministen Pierre-Simon Laplace wäre es sogar möglich, dass ein so genannter Laplace’scher Dämon alle Handlungen der Zukunft exakt voraussagen könne. Ein Laplace’scher Dämon besitzt eine übermenschliche Intelligenz. Er benötigt Wissen über jedes einzelne Atom, um daraus eine lückenlose Vorhersage über die Zukunft zu treffen. Voraussetzung hierfür ist, dass eine ausnahmslose Kausalität aller Ereignisse wahr ist.

Der Wille ist frei!

Auf der anderen Seite stehen die Indeterminist*innen, die sich als Libertarier wahrnehmen, als jemanden, der an den freien Willen des Menschen glaubt. Der Freiheitsbegriff, den wir heute verwenden, geht auf den aufklärerischen Denker Immanuel Kant zurück, für den die Willensfreiheit des Menschen aus seiner Vernunft entsteht. Ein freier Mensch hat mehrere Optionen, nach denen er handeln kann. Dennoch stehen nach Kant Pflichtentscheidungen den Lustentscheidungen gegenüber, die einen von der Freiheit abhalten. Pflicht und Freiheit gehören nach Kant also untrennbar zusammen. Die Freiheit des Einzelnen endet für ihn dort, wo die Freiheit eines anderen anfängt, was auch im bekannten Kategorischen Imperativ („Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“) zum Ausdruck kommt.

Für den französischen Existenzialisten Jean-Paul Sartre gilt Freiheit sogar als Bürde des Menschen, da der Mensch als einziges Wesen zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden könne. Diese Freiheit führt dazu, dass der Mensch die Verantwortung für sein Handeln und die Entwicklung der Menschheit trage. Dass Menschen allerdings immer wieder in ihre unmoralischen Verhaltensweisen flüchten können und sich vor der ihnen auferlegten Verantwortung drücken können, nennt Sartre „mauvaise foi“ (schlechter Glaube), was in etwa dem heutigen Verständnis von Selbsttäuschung oder Unaufrichtigkeit entspricht. Der Mensch ist also gleichzeitig Lügner und Belogener in einer Person.

Setzt Schuld einen freien Willen voraus?

Da der Mensch im Determinismus nicht die freie Entscheidung zwischen der guten und der schlechten Tat hat, kann dem Prinzip der Schuld keine Bedeutung zukommen. Im Fall einer Straftat würden Determinist*innen für eine Behandlung der entsprechenden Person und gegen eine Folter- oder Geldstrafe argumentieren. Nach dem Indeterminismus liegt es in der Verantwortung jedes Einzelnen, sich für das moralisch Richtige zu entscheiden, seinen eigenen Überzeugungen nach zu handeln und nicht vor der eigenen Verantwortung zu flüchten. Kant geht sogar so weit zu behaupten, dass nur ein moralisch handelnder Mensch wirklich frei sei. Die Verantwortung für andere ist also aus der Sicht Kants entscheidend für unser Zusammenleben.

Verantwortung in der Religion

Nicht nur in der Philosophie, sondern auch in allen großen monotheistischen Religionen ist Verantwortung, insbesondere für Andere, ein entscheidendes Thema. Um einer dieser Religionen zu folgen, ist der Indeterminismus grundlegend: Ein Mensch muss die Freiheit besitzen, sich für den Glauben an einen Gott zu entscheiden und muss auch selbst zwischen Richtigem und Falschem entscheiden müssen.

So gibt es im Islam die Zakat, eine jährlich zu entrichtende Abgabe von etwa 2,5 Prozent  des eigenen Vermögens an Bedürftige. Zusätzlich gibt es die Sadaqa, die darüberhinausgehend eine freiwillige Spende vorsieht. Im Alten Testament wird der „Zehnt“ als Abgabe an Bedürftige gesehen, alle Spenden und Almosen, die im Neuen Testament erwähnt werden, sind allerdings freiwillige Gaben. Im Judentum gibt es die obligatorische Zedaka, an die an vielen Orten des täglichen Lebens durch kleine Boxen erinnert wird. So wird der Gedanke an Mitmenschen, denen es nicht so gut geht, aufrechterhalten.

Bin ich nun schuldig?

Wir können also festhalten: Um überhaupt in die Pflicht genommen zu werden, sich um andere kümmern zu können, ist die Annahme des Indeterminismus eine grundlegende Voraussetzung. Gehen wir von einer deterministischen Sicht aus, kann niemand für etwas zur Rechenschaft gezogen werden, da sich aus der gleichen Ausgangssituation kein anderes Verhalten hätte entwickeln können.

Aber – der Gedanke an eine komplett determinierte Realität lähmt, deprimiert, lässt alles aussichtslos erscheinen. Ändern können wir ja eh nichts – oder? Klären lässt sich diese Frage allerdings auch nicht wirklich. Auf gewisse Art und Weise bleibt Philosophie ja immer ergebnisoffen und subjektiv, so gute Argumente es auch für jede Position geben mag.

Doch ist es relevant, aus welchen Beweggründen sich jemand dazu entscheidet, zu helfen? Ist es wichtig, aus welcher religiösen oder philosophischen Perspektive heraus sich jemand entschließt, etwas abzugeben, seien es Geld, Zeit, überschüssige Kleidung?

Die Frage nach dem Determinismus und dem freien Willen scheint subjektiv und ohnehin eher zweitrangig, auch wenn das Schuldgefühl natürlich eine große Motivation sein kann, sich in Zukunft besser zu verhalten. Also frei nach Kant: Mach’s gut? Mach’s besser. Für die eigene Freiheit.

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