Startwoche 2024: Weite Horizonte

11.10.2024 Wie kann gesellschaftliche Spaltung überwunden werden? Die Politikwissenschaftlerin Liya Yu schlägt einen neurowissenschaftlichen Blick vor: „Auf der Gehirnebene spielen sich Dinge ab, die wir mit Umfragen, mit Verhaltensbeobachtung allein nicht erklären können“, sagt sie und plädiert dafür: „Wir müssen aufgeklärte Wesen unserer dehumanisierten Gehirne werden.“

©Ciara Burgess
„Wenn wir als Geisteswissenschaftler*innen und Sozialwissenschaftler*innen uns diese biologische Realität nicht zu eigen machen und wir nicht definieren, was es bedeutet, Mensch zu sein, dann werden das andere tun", sagt Liya Yu.

Liya Yu muss noch nach Berlin. Sie ist von der gemeinnützigen Organisation „Brand New Bundestag“ als „Progressive Voice“ nominiert worden. Doch noch kommt sie nicht zum Bahnhof: Die Erstsemester-Studierenden haben nach dem Gespräch über ihr Buch „Vunerable Minds: The neuropolitics of a divided society“ noch viele Fragen – etwa, welche Hirnareale sich bei rechten und linken Wählern unterscheiden oder wie wichtig emotionale Intelligenz ist. 

Liya Yu wuchs als Kind chinesischer Einwanderer in Deutschland auf und berichtet von eigenen Diskriminierungserfahrungen: „Ich habe Menschen getroffen, die die schönsten Dinge über Menschenrechte, über Inklusion oder über demokratische Werte erzählen. Aber wenn du mit diesen Menschen interagierst, dann erkennst du: Sie sehen dich nicht als vollwertige Menschen an (fully human).“ 

Die Wissenschaftlerin berichtete über ein sozialpsychologisches Experiment, das in den 60er Jahren in den USA durchgeführt wurde: Zwar hatten die weißen Probanden behauptet, sie seien keine Rassisten. Aber als schwarze Personen den Raum betraten, schwitzen die weißen Menschen stärker als zuvor. Die Forscher interpretierten die Körperreaktionen als Angst, beschreibt Liya Yu. „Auch wenn Menschen sagen, sie sind nicht rassistisch, haben sie rassistische Gedanken“, erklärt die Forscherin und fasst ihre kontroverse These zusammen: „Wir haben heute schon alle jemanden dehumanisiert.“ 

Manchmal passiere dies auch zum Selbstschutz, etwa wenn die Inhalte von Nachrichtensendungen uns nicht traurig stimmen, obwohl sie traurig sind. „So funktioniert unser Gehirn, das ist unsere Biologie.“ Liya Yu forderte in ihrem Gespräch mit der Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Sarah Engler: „Wir müssen aufgeklärte Wesen unserer dehumanisierten Gehirne werden.“ Den Vorwurf, biologistisch zu sein zu können, widersprach sie: „Wenn wir als Geisteswissenschaftler*innen und Sozialwissenschaftler*innen uns diese biologische Realität nicht zu eigen machen und wir nicht definieren, was es bedeutet, Mensch zu sein, dann werden das andere tun. Dieses Resultat wird uns aber nicht gefallen.“

Liya Yu ist nicht zum ersten Mal Gast an der Leuphana. Zuletzt sprach sie auf der Utopie-Konferenz. Sie mag die Konzeption der Universität Lüneburg: „Das Studienmodell ist humanisierend und inkludierend. Ich finde auch gut, dass die Themen herausfordernd sind. Junge Leute können viel mehr als man ihnen oft zutraut. Es ist gut, mit weiten Horizonten zu beginnen.“