Mythos Michelsen

Einer, der an uns glaubt

Von Maike Buchholz und Vanessa Schwarz

Nachhaltigkeit und Michelsen - das gehört in Lüneburg untrennbar zusammen. Seit dem Wintersemester 1993 lehrt Gerd Michelsen an der Leuphana und hat sich die Integration von Nachhaltigkeit in Lehre und Forschung zur persönlichen Aufgabe gemacht. Die Leuphana Universität ist so zum international beachteten Wissenschaftsraum für Nachhaltigkeitsforschung geworden. Seitdem befinden sich Universitätsentwicklung und die universitäre Auffassung von Nachhaltigkeit in fruchtbarer Wechselbeziehung.

Vieles davon ist Gerd Michelsens Verdienst: Das Modul „Wissenschaft trägt Verantwortung. Nachhaltigkeit und Verantwortung in der Gesellschaft, der Bachelor-Studiengang Umweltwissenschaften und Master- und Promotionsstudiengänge zum Thema Nachhaltigkeit hat er an der Universität mit initiiert. So begegnen ihm die meisten Studierenden bereits im ersten Semester.

Die Anfänge des jungen Michelsen
Ein junger Student ist Michelsen auch einmal gewesen. Ende der 1960er Jahre beginnt er erst in Kiel, dann in Freiburg ein VWL-Studium. Doch nur die Theorie reicht ihm nicht: Er ist auch ein kritischer Aktivist. Er demonstriert und ist unbequem. Besonders im Widerstand gegen den Bau des AKW Wyhl kämpft Gerd Michelsen für seine Ideale. Und gemeinsam mit badisch-elsässischen Bürgerinitiativen auch erfolgreich.

Gerd Michelsen gründet 1977 zusammen mit Kollegen das Ökoinstitut Freiburg. 1979 wechselt er an die Universität Hannover und bringt mehr und mehr Fragen zur Nachhaltigkeit in die wissenschaftliche Weiterbildung ein, bis der Ruf nach Lüneburg folgt. Er soll Wissenschaft, Umwelt und nachhaltige Entwicklung verbinden.

Kein leichtes Unterfangen: In Michelsens ersten Jahren ist noch viel Widerstand aus Politik und Wirtschaft zu spüren. Auch den Wunsch, den Bereich an der Universität einzugliedern, lehnen viele erst ab. Nachhaltigkeit sei etwas Normatives und gehöre nicht in die Lehre, wäre sogar mit einer Ideologie gleichzusetzen. Doch Michelsen und seine Kolleginnen und Kollegen kämpfen. Mit Erfolg: Das Interesse an Nachhaltigkeit und Umweltfragen ist auf dem Vormarsch und mit ihren Ideen erreichen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Instituts für Umweltkommunikation an der Leuphana immer mehr Menschen. Schließlich folgten auf diese Ideen auch Taten. Michelsen bekleidete sogar den Posten des Vize-Präsidenten für den Bereich Lehre und Weiterbildung für knapp zwei Jahre. Der Rest ist Geschichte.

Gerd Michelsen gehört zu jenen seltenen Personen, die auch privat das umsetzen, was sie in der Öffentlichkeit vertreten. Ein Auto habe er, ja. Aber für lange Strecken wird eben der Zug genommen. Statt Fernreisen hat Michelsen mit seiner Frau lange Fahrradurlaube für sich entdeckt. Obwohl: Im letzten Jahr standen zehn Tage Südfrankreich auf dem Plan. Ein bisschen Sonne, ein bisschen die Seele baumeln lassen. Doch es bleibt immer wieder das kritische Hinterfragen, bevor Neues gekauft wird: Brauche ich das wirklich, um glücklich zu sein?

Glücklich mache ihn zum einen sein persönliches Umfeld. Seine Familie, besonders seine zwei Enkelkinder, sind für ihn das Wichtigste. Aber auch mehr Gerechtigkeit in der Welt gehört für ihn zu einem guten Leben. Verantwortung für sich selbst, für andere, für alle - das ist Michelsen wichtig. Dass nachhaltiges Leben nicht immer einfach ist, weiß er allerdings auch. „Ich möchte nicht der Messias sein, der predigt, was man machen darf und was nicht. Auch ich bin nur ein Mensch. Es gibt Momente, da kann man auch mal schwach werden.“

Generation Nachhaltigkeit
Der Professor wünscht sich, dass  Nachhaltigkeit und Bewusstsein nicht mit Verzicht gleichgesetzt werden. Verzicht ist vor allem für junge Menschen in unserer Überflussgesellschaft abschreckend. Aber gerade Michelsen ist einer, der an uns glaubt: „Die junge Generation ist besser als ihr Ruf. Rund 80 Prozent aller Jugendlichen beschäftigen sich mit nachhaltiger Entwicklung.“ Dabei geht es nicht unbedingt um das Streben nach einem Vorstandsposten oder dem UNESCO-Lehrstuhl, den Michelsen seit 2005 besetzt. Es sind die die kleinen Schritte, die wichtig sind.

Wissenschaft, Wirtschaft und Nachhaltigkeit miteinander zu verbinden, ist eines von Michelsens Zielen. Das von ihm initiierte Modul „Wissenschaft trägt Verantwortung“ soll genau diese Kompetenzen bereits im ersten Semester fördern. Statt starr spezialisierten Fachleuten werden so kritische, junge Leute ausgebildet, die über die eigene Disziplin hinaussehen. „Das Bachelor-Studium soll dazu dienen, Ihnen zwei Fähigkeiten mit auf den Weg zu geben: Die erste ist, geradeaus denken zu können, und die zweite, gelegentlich auch mal um die Ecke denken zu können.“

Seniorprofessur als Neuanfang
Seit November letzten Jahres ist er Seniorprofessor. Kürzer treten will er - ob er es schafft, wird sich zeigen. Sein Wunsch ist es, dem Nachwuchs eine Chance zu bieten und jüngeren Kolleginnen und Kollegen „den Weg frei zu machen“. Trotzdem möchte Michelsen sich noch neu einbringen, sich vielleicht sogar einer neuen Aufgabe widmen. Sicher wird es sich dabei wieder um „etwas mit Nachhaltigkeit“ handeln. Er ist uns als Student, Wissenschaftler, Familienmensch, Professor und Bahnfahrer begegnet. Vor allem aber ist er ein Mensch, der den Wunsch nach einer gerechteren, nachhaltigeren Welt in allen Rollen mit sich trägt.