Wenn morgen schon heute ist

Emil ist noch ganz verschlafen. 
Heute Nacht war es wieder laut in der Straße, in der er wohnt. Die Maschinen, die das Wasser zum Trinken aufbereiten, laufen ohne Unterlass. Das Frühstück hat er sich ganz alleine gemacht, aber das kennt Emil nicht anders seitdem seine Mutter es "so schlimm mit der Lunge" hat.

Er zieht mit der einen Hand die Haustür hinter sich zu und setzt gekonnt mit der anderen seinen Mundschutz auf. Wie jedes Mal, wenn er nach draußen geht.

Heute riecht es besonders unangenehm, die Stadt hat das Problem mit dem Smog noch nicht in den Griff bekommen. Noch weiß er nicht, dass seine Vorfahren es waren, die so gedankenverloren mit dem Kostbarsten umgegangen sind, das Emils kindlicher Verstand sich vorstellen kann:
Saubere Luft, so sagt man, ist die, die man ohne Maske bedenkenlos inhalieren kann. Sauberes Wasser kennt Emil heute unter dem Ausdruck „flüssiges Gold“.
Beeren, Pilze und Samen, so hat man es ihm beigebracht, darf man nicht essen, wenn sie von draußen kommen. Emil versteht noch nicht, warum das so ist, denn er hat da draußen noch nie welche gesehen. Er war noch nie im Wald.

Trotzdem freut Emil sich auf die Schule, denn heute steht wieder Biologie auf dem Stundenplan der dritten Klasse. Er genießt es, sich mit den Bildern von den seltsamen Tieren, die sie gemeinsam dort besprechen, in eine andere Welt zu träumen. Eine Welt, von der er zwar vieles weiß, von der er sich aber nur schwerlich vorstellen kann, dass es sie wirklich einmal gegeben hat.

Noch weiß er nicht, dass seine Vorfahren die Mitschuld am Aussterben dieser wunderschönen Tiere tragen.
Doch immerhin kennt er die Knochen all dieser stolzen, prachtvollen Tiere - seine Lehrer haben erst kürzlich einen Ausflug mit ihm und seiner Klasse ins Museum gemacht.
Für ihn sind diese Wesen wie Superhelden aus vergangenen Tagen.
In der Mittagspause geht er gemeinsam mit den anderen Kindern in die Kantine;
dort gibt es heute wieder Weizenmehlschnitzel. Die schmecken ihm zwar nicht, aber seit dem letzten Skandal in der Fleischindustrie trauen sich die Schulen aus Sorge um die Gesundheit der Kinder nicht mehr, echtes Fleisch zu servieren.
 Das haben ihm zumindest seine Eltern so erzählt. 

Nach der Schule geht Emil schnell los, um seinen Vater bei der Arbeit zu besuchen. Wenn er sich beeilt und er heute Glück hat, dann hat sein Papa noch Pause und vielleicht sogar noch ein paar Minuten Zeit, ihn einmal kräftig durchzukitzeln. Das liebt Emil nämlich. 

Zu Hause hat er seinen Papa schon lange nicht mehr gesehen.


Die Zeiten, in denen wir die Chance dazu hatten, uns um Nachhaltigkeit zu scheren, ihre Bedeutung mit viel mehr Achtung zu definieren und verantwortungsbewusst und schnell aus unseren Fehlern zu lernen, sind vorbei. Emils Welt ist die, die wir ihm hinterlassen haben.  Er kann nicht zurück und es besser machen.
 Er kann nur weiter davon träumen, irgendwann einmal einem dieser faszinierenden Tiere zu begegnen.
 Der Begriff der Nachhaltigkeit ist in Emils Welt nur noch die verpasste Chance seiner Vorfahren – uns.