Buen vivir
Gutes Leben auf lateinamerikanisch
Von Philipp Wagenhals
Lateinamerika entdeckt seine indigen Wurzeln wieder und sucht einen Weg abseits von westlichem Wachstumswahn und Umweltzerstörung.
Was macht das Leben gut? Das ist nicht nur die Leitfrage unserer Konferenzwoche. Nicht nur hier macht man sich Gedanken über das Thema. Lateinamerika besinnt sich seit einigen Jahren wieder auf seine indigen Wurzeln und entdeckt das buen vivir (gutes Leben) neu.
Diese Weltanschauung entstand in der Andenregion und ist seit jeher ein zentraler Bestandteil der dort lebenden indigen Bevölkerung. Anders als die bloße Übersetzung vermuten lässt, basiert das buen vivir nicht einfach auf einer zufriedenen Lebensweise. Vielmehr soll die Gesellschaft als Ganzes verstanden werden. Bei dieser Philosophie steht der Einklang von ökologischen und sozialen Normen im Mittelpunkt. Vor allem die Abkehr vom anthropozentrischen Weltbild kann auf Europäer befremdlich wirken.
Das buen vivir ist jedoch keine homogene Strömung, vielmehr lebt es von seiner Vielseitigkeit und der Diskussion. Die weltlichen Elemente machen es auch für die Politik interessant. In den post-diktatorischen Verfassungen Ecuadors und Boliviens findet dieser weltliche Charakter Einklang. So wurde in Ecuadors Verfassung im Lichte des buen vivir eine kostenlose Bildung bis zur Hochschulreife erstmals verankert. Bei der UN-Klimakonferenz 2010 in Cancún stimmte Bolivien als einziges Land gegen den wieder einmal unverbindlichen Kompromiss und forderte die Welt auf, sich endlich der Rettung des Planeten anzunehmen,
Entwicklung im westlichen Sinne ist dagegen nicht bekannt. Sie wird nicht als linearer Prozess begriffen. Lateinamerika wendet sich von einer Entwicklung nach europäischem und US-amerikanischem Vorbild ab und sucht seinen eigenen Weg. Wohlstand wird dabei nicht nur materiell wahrgenommen, sondern in vielen Dimensionen betrachtet. Entwicklung soll nicht mehr wie in den Jahrzehnten der Militärdiktaturen auf Kosten der Umwelt stattfinden, sondern mit dieser im Einklang stehen.
Ob das buen vivir seinen eigenen Ansprüchen immer gerecht werden kann, ist natürlich fraglich. Doch ist das bei einer Ideologie überhaupt möglich? Das buen vivir zeigt uns einen interessanten Weg jenseits von Kapitalismus und Realsozialismus der ehemaligen Sowjetstaaten auf. Mensch und Natur kommt wieder die Wertschätzung zu, die sie eigentlich verdienen.