Big Democracy – mit Datenspenden zur digitalen Souveränität
Ein Essay von Alex Krause
Das Grundwasser ist hierzulande Gemeingut und steht grundsätzlich allen zur Verfügung. Etwas Ähnliches schwebt Francesca Bria auch mit den Daten der Bürger*innen vor, die im digitalen Alltag produziert werden.

In den hiesigen politischen Debatten erklingt immer wieder die Forderung nach mehr Digitalisierung, so wie kürzlich etwa für die Gesundheitsämter während der Pandemie. Es kann durchaus überraschen, wenn der öffentliche Dienst heute noch mit dem Faxgerät arbeitet, während Großteile des täglichen Lebens (Social-Media, Online-Shopping, News-Blogs etc.) bereits wie selbstverständlich in digitalen Milieus stattfinden. Hierbei ist allerdings zu beachten, dass viele der digitalen Dienste und Infrastrukturen von privaten Unternehmen gestellt und kontrolliert werden. Ob Bezahlvorgang, Wegbeschreibung oder Kommunikation – alles läuft über global agierende Plattformen, deren Ordnung und Streben kapitalistischen Regeln folgt und deren wichtigste Währung die Daten der Nutzer*innen sind.
Bereits im Jahr 2016 verkündete die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel auf der CeBIT, dass Daten der Rohstoff des 21. Jahrhunderts seien. Ein Blick auf die derzeit wertvollsten börsennotierten Unternehmen bestätigt, dass digitale Daten den klassischen Rohstoffen den Rang ablaufen. Die Aktien der US-Tech-Branche – dazu gehören Microsoft, Apple, Amazon, Meta Plattforms (ehemals Facebook) und Alphabet (Google) – sind zusammen wertvoller als der gesamte europäische Aktienmarkt. Ein Grund dafür: Den Unternehmen ist es gelungen, das eigentlich dezentral organisierte Internet in weiten Teilen bei sich zu zentrieren. Ihre Produkte in Form von Smartphones, Software und virtuellen (Kommunikations-)Räumen sind die Eingangstore zur Teilnahme am digitalen Leben, wodurch ein Großteil des internationalen Datenverkehrs ihre Kanäle passiert. Den Bereitstellern digitaler Infrastrukturen ermöglicht dies zum Teil ungefilterte Einblicke in intimste Sphären der Nutzer*innen.
Das Geschäft mit den Daten
Private und persönliche Informationen sind für diese Unternehmen also kein Geheimnis, sondern werden zu Waren und sind Teil eines Geschäftsmodells, welches die US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff als Überwachungskapitalismus betitelt. Ihr zufolge werden die Daten der Nutzer*innen zum Rohstoff und Material, welches nach algorithmischer Auswertung auf die Vorhersage des individuellen Verhaltens abzielt. Entsprechende Prognosen dienen anschließend insbesondere für die Platzierung personalisierter Werbebotschaften, denn das Werbegeschäft ist laut Amnesty International eine der Haupteinnahmequellen von Google und Facebook.
Derweilen ist zu beobachten, wie sich der Wirkungsbereich von Big-Tech-Unternehmen auch auf sensible gesellschaftspolitische Sphären ausweitet. Das demonstrierte beispielsweise der Skandal um Facebook und Cambridge Analytica im Jahr 2016. Mit der Unterstützung von öffentlichen Diensten durch die digitalen Lösungen der Tech-Unternehmen ist zudem ein Trend zur Privatisierung kritischer Infrastrukturen zu beobachten. Als Beispiel lässt sich die Zunahme von Gesundheits-Apps anführen, die etwa mit der Therapie psychischer Krankheiten werben; oder auch das Google-Schwesterunternehmen Sidewalk Labs, welches technische Lösungen für die städtische Transformation zur Smart City anbietet. Das alles muss nicht prinzipiell schlecht sein – Daten, Technik und Vernetzung können ganz sicher einen Beitrag für ein friedliches und nachhaltiges Zusammenleben leisten. Es ist jedoch fraglich, ob es für die Souveränität einer demokratischen Gesellschaft von Vorteil ist, wenn der öffentliche Sektor die digitale Expertise an private Unternehmen abgibt und schleichend in kapitalistische Mechanismen eingebunden wird.
Mit dem Smart Green New Deal gegen die digitale Kolonisierung durch Big-Tech
Aktuell verschenken Nutzer*innen digitaler Plattformen ihre Daten nahezu an die Big-Tech-Unternehmen. Wer am digitalen Leben teilnehmen möchte, muss ihren Geschäftsbedingungen zustimmen oder bleibt eben ausgeschlossen. Das verdeutlicht die Machtposition populärer Plattformen, für die ihre Nutzer*innen auf das Recht zur informationellen Selbstbestimmung weitestgehend verzichten. Die erhobenen Daten dienen dort jedoch bloß dem Geschäftsmodell und bleiben für öffentliche Anliegen unzugänglich – was allein wie verschenktes Potential erscheinen mag.
Die Innovationsökonomin Francesca Bria warnt explizit davor, dass ganze Gesellschaften auf diesem Weg zu digitalen Kolonien der Big-Tech-Ökonomie werden. Als führende Expertin für digitale Politik in Europa setzt sie sich dafür ein, die Daten in den Dienst der Öffentlichkeit zu stellen und ruft gesellschaftlich dazu auf, sich digitale Infrastrukturen zurückzuerobern. Ihr Gegenentwurf zu den Datenmonopolen der Big-Tech-Branche sieht die Schließung eines neuen Sozialvertrags – den Smart Green New Deal – vor, in dessen Zentrum die Demokratisierung von Daten steht. Demnach sollen Daten zum Allgemeingut und damit frei zugänglich werden – so wie Wasser, Straßen oder die Luft zum Atmen. Als Gemeinbesitz könnten alle Menschen und Organisationen mit den Daten von Personen, Sensoren und Geräten arbeiten, um Dienste und Lösungen für die Allgemeinheit zu schaffen. Demzufolge stünden die Daten und ihr wirtschaftlicher Wert bei einem solchen Open-Source-Modell im Dienste der Bevölkerung, anstatt wie aktuell zum Spielball privatwirtschaftlicher (oder machtpolitischer) Interessen zu werden.
Indem Bürger*innen eigene Daten kontrolliert und selbstbestimmt für die Allgemeinheit zugänglich machen, könne digitale Souveränität für die Gesellschaft zurückgewonnen und gestärkt werden, so Bria. „Es geht darum sicherzustellen, dass unsere Institutionen in der Lage sind, mit diesen Daten zu arbeiten, um die öffentlichen Dienstleistungen zu verbessern, die Städte grüner zu machen und dabei die Grundrechte der Bürger zu schützen.“ Über sogenannte Daten-Commons als offene, gemeinsam genutzte Ressource einer städtischen Gemeinde könnten deren Bewohner*innen beispielsweise mit dem eigenen Datenpool zur Planung und Umsetzung einer nachhaltigen Strukturierung ihres Wohnortes beitragen.
Öffentlicher Wert anstelle von privatem Profit
Diese Idee wurde bereits in Barcelona und Amsterdam umgesetzt. Das durch die europäische Union geförderte Projekt DECODE, an dem Bria in leitender Funktion beteiligt ist, organisierte in den Städten offene Datengemeinschaften, um öffentlichen Wert anstelle von privatem Profit zu generieren. In Barcelona beteiligten sich 400.000 Bürger*innen, die über das Projekt zudem aktiv an der Definition politischer Ziele und gestalterischer Maßnahmen der Stadt mitwirken konnten. „Ein Ergebnis war der neue Superblock, wo man alles, was man braucht, Arbeit, Läden, Kindergärten oder Parks binnen 15 Minuten zu Fuß erreicht,“ berichtet Bria der „FAZ“.
Bria betitelt diese Strategie für den Umgang mit digitalen Daten als ‚Big Democracy‘. Dabei gehe es nicht um Überwachung, wie etwa im Big-State-Modell Chinas, und auch nicht um kapitalistische Interessen, wie in der Big-Tech-Branche. Viel mehr handle es sich um eine Alternative, bei der die bürgerlichen Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen. Das Ziel sei, die Datenhoheit für die Bürger*innen zurückzugewinnen und gleichzeitig die ökologische Transformation sowie das Allgemeinwohl zu fördern.
Trotz der guten Absichten ist zu erkennen, dass sich bei all dem besonders der Begriff der Privatsphäre im Wandel befindet. Es sieht danach aus, als verflüchtigten sich die privaten Rückzugsorte innerhalb digitalisierter Gesellschaften. Dabei ist die Privatsphäre Grundlage für die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Das Recht auf Privatsphäre gewährt einen Schutz(raum) vor den Einflüssen oder der Beobachtung Dritter und erwächst aus dem Grundgesetzt. Für das Big-Democracy-Modell ist daher zentral, dass die Bürger*innen die Kontrolle über ihren persönlichen Informationsfluss behalten. Sie entscheiden selbst, ob und wer welche Daten zu welchen Zwecken nutzen darf. Das Ziel muss sein, präzise, selbstbestimmt und abhängig vom Kontext zu entscheiden, ob persönliche Informationen für öffentliche Anliegen genutzt werden dürfen oder nicht. Eine wesentliche Herausforderung für die Umsetzung von Big-Democracy dürfte daher die Schaffung der technischen Voraussetzungen sein, um die Privatsphäre auch in digitalen Kulturen zu schützen und zu erhalten. Gelingt dies nicht, lässt sich das Modell nur schwer mit dem Grundgesetz und den Werten unserer Gesellschaft vereinen.
Vor dem Hintergrund, dass auf unternehmerischer Ebene längst mit den persönlichen Daten gehandelt wird, sind neue Ideen, Lösungen und Diskurse zum öffentlichen Wert digitaler Daten jedoch dringend notwendig. Als Direktorin des Programms „The New Hanse“ wirkt Francesca Bria nun an der bürgerzentrierten und sozialökologischen Zukunft der Stadt Hamburg mit, sodass sich künftig auch dort zunehmend die Frage danach stellen dürfte, mit wem und zu welchen Zwecken die eigenen Daten geteilt werden.
Quellen:
Amnesty International (2019): Surveillance Giants: How the Business Model of Google and Facebook Threatens Human Rights. London: Amnesty International | Creative Commons.
Bria, Francesca (2021): Wir brauchen einen neuen Deal. In: faz.net [online]. Unter: www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/francesca-bria-fordert-digitale-souveraenitaet-fuer-europa-17552533.html
Leuphana Universität Lüneburg (2021): Talk with Francesca Bria - Opening Week 2021. In: youtube.com [online]. Unter: youtu.be/JJld5Q5XwsY
Maak, Niklas (2020): Holt euch eure Daten zurück! In: faz.net [online]. Unter: www.faz.net/aktuell/feuilleton/francesca-bria-im-interview-holt-euch-eure-daten-zurueck-17007960.html
Simmank, Jakob & Kühl Eike (2017): Mach doch 'ne Handy-Therapie. In: zeit.de [online]: Unter: www.zeit.de/wissen/gesundheit/2017-08/psychotherapie-handytherapie-depression-psychiatrie-ferntherapie/komplettansicht
Zuboff, Shoshana (2018): Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Frankfurt am Main: Campus Verlag.
Zuboff, Shoshana (2021): The Coup We Are Not Talking About. In: The New York Times [online]. Unter: www.nytimes.com/2021/01/29/opinion/sunday/facebook-surveillance-society-technology.html
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