No one left behind? Warum es in der Klimadebatte stärker um globale Gerechtigkeit gehen muss

Ein Essay von Hanna Hellmann


Die EU verabschiedet Maßnahmen zum Klimaschutz und scheint dabei zu vergessen, dass ihre historische Verantwortung über die Grenzen ihrer Mitgliedsstaaten hinausreicht. Ungerechte Weltordnungen, ungleiche Schuld und Betroffenheit werden zu oft unter den Teppich gekehrt. Dabei kann es ohne eine gerechte Weltordnung keinen gesunden Planeten geben.

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Klimagerechtigkeit, jetzt. Das fordern die Demonstrierenden der Fridays for Future Bewegung seit 2018. In Gruppierungen im Globalen Süden existiert die Forderung schon seit mehr als 20 Jahren.


„It is up to us to leave no one behind. And we know that it is doable. We are determined to succeed for the sake of this planet and life on it.”

So präsentierte die Kommissionspräsidentin Von der Leyen vor nicht viel mehr als zwei Jahren den European Green Deal (EGD) im europäischen Parlament. Ohne an Pathos zu sparen, verkündete sie die ambitionierte Vision eines klimaneutralen Europas und machte unmissverständlich klar: Hier geht es ums große Ganze.

Während den Mitgliedsstaaten mit dem Just Transition Mechanism ein gerechter Weg aus der Klimakrise versprochen wird, reicht der Blick der Präsidentin nicht über die Grenzen der Europäischen Union (EU) hinaus. Man betrachte beispielsweise den zumindest aus europäischer Sicht wichtigen Hoffnungsträger Wasserstoff. Als vielseitiger „Einsatzstoff, Brennstoff oder Energieträger und -speicher mit zahlreichen Anwendungsmöglichkeiten in der Industrie, im Verkehr, im Energie- und im Gebäudesektor“ wird dieser als essenzieller Teil der europäischen Transformation gehandelt. Aus einer globalen Perspektive allerdings erweist sich die Wasserstoffstrategie der EU als äußerst kritisch.

Wie die Sozialwissenschaftlerin Imeh Ituen in ihrem Werde-Interview aus 2021 richtig feststellt, ist die „Produktion von Wasserstoff (…) mit enormen sozialen und ökologischen Kosten verbunden.“ Zu spüren sein werden diese allerdings hauptsächlich in afrikanischen Ländern. Bevor der als grün geltende Wasserstoff innerhalb Europas genutzt werden kann, muss er in energieintensiven Prozessen gewonnen werden. Landnutzungskonflikte aufgrund von hohem Wasserbedarf, Emissionen, die beispielsweise durch die Versiegelung von Boden entstehen, auf denen riesige Windkraftanlagen gebaut werden müssten und auch Energieknappheit im Landesinneren werden in Afrika Realität sein, während sich Europa als erster klimaneutraler Kontinent feiern kann.  Mit Frieden und Gerechtigkeit, Werte, die die EU eigentlich auch für sich verbucht, hat das wenig zu tun. Eine echte Chance auf die Bewältigung der Klimakrise kann es nur geben, wenn die Europäische Kommission in ihrem Vorgehen nicht weiterhin auf ihre Vormachtstellung in einer kolonialen Weltordnung besteht. Denn Fakt ist, so bringt es Imeh Ituen auf den Punkt, dass „die Ausbeutung von Menschen immer auch mit der Ausbeutung der Natur einhergeht“.

Historische Verwicklung von Klimawandel und Kolonialismus

1492 ging Kolumbus unweit der Grenzen der heutigen USA von Bord seines Schiffes. Was als „Entdeckung Amerikas“ in die Geschichtsbücher einging, markierte allerdings aus sozial- und umweltpolitischer Sicht die Ausweitung von ausbeuterischer Plantagenwirtschaft und kolonialem Morden. Bereits 40 Jahre zuvor wurden auf der heutigen Insel Madeira Menschen versklavt, was auch unmittelbar mit der Zerstörung von ganzen Wäldern einherging. Damit wurden die Grundsteine für die gewaltvolle und ungerechte sowie umweltschädliche Praxis, besonders ressourcenreiche Regionen und die darin lebende Bevölkerung auszubeuten, gelegt.

Auffällig ist, dass im Anthropozän nicht etwa alle Menschen gleichermaßen verantwortlich und gleichermaßen von den Folgen des Klimawandels betroffen sind. Die Klimaerhitzung ist differenziert betrachtet nicht einfach nur menschengemacht. Vielmehr ist sie das Produkt von westlicher Vormachtstellung und westlich orientierten Lebens- und Politikstilen. Schockierend deutlich wird das mit einem Beispiel, das von den Autor*innen Laura Bechert, Shaylı Kartal und Dodo in der im vergangenem Jahr erschienenen Broschüre „Kolonialismus und Klimakrise – Über 500 Jahre Widerstand“ der BUNDjugend angeführt wird: „Allein im Jahr 2013 verursachte Deutschland als einzelnes Land so viel CO₂ wie alle 49 afrikanischen Länder südlich der Sahara gelegen zusammen.“

Wenn in den Niederlanden fortlaufend Expert*innenteams mit hochtechnologisierter Ausrüstung daran arbeiten, das Land vor drastischem Hochwasser und anderen Katastrophen zu schützen, die zu nicht geringem Anteil durch die Klimaerhitzung zu erwarten sind, während es in anderen Teilen der Welt an Mitteln fehlt, um sich auf solche Extremfälle vorzubereiten, dann kann und darf die EU auch in Sachen Klimaschutz nicht bei ihren Mitgliedsstaaten haltmachen, sondern muss die bis heute anhaltenden globalen Ungerechtigkeiten in den Fokus nehmen.

Für einen Kurswechsel westlicher Klimaschutzpolitik

Die Wurzeln der Klimakrise reichen tief und müssen als das adressiert werden, was sie sind. Laura Bechert, Shaylı Kartal und Dodo schreiben: „Kolonialismus, Rassismus und Klimakrise stehen in einem untrennbaren Zusammenhang zueinander. Die gegenwärtige Klimakrise zulasten von BIPoC weltweit ist das Ergebnis über 500-jähriger kolonialer Praxis.“ Gruppierungen wie das Black Earth Kollektiv in Berlin oder das BIPoC Climate Justice Network, KlimaDeSol, der Bloque Latinoamericano und viele andere haben sich die Sichtbarmachung genau dieser Verstrickungen zur Aufgabe gemacht. Ihre Mitglieder sind hauptsächlich Schwarze Menschen, Indigene Menschen und Menschen of Color. Denn es sind genau diese Gruppen, vor allem im globalen Süden, die teilweise seit über 20 Jahren Klimagerechtigkeit fordern. Klimakrise und Umweltzerstörung hängen für die am stärksten von den Folgen des Klimawandels betroffenen Personen auch am spürbarsten mit sozialen Ungerechtigkeiten zusammen.

In der Europäischen Kommission darf die Klimapolitik nicht weiter unter dem Motto - um noch einmal aus der Rede Von der Leyens zu zitieren - „made in Europe for Europe“ angegangen werden. Gerade in den Staaten, die eine historisch überproportionale Verantwortung für die Krisen dieser Welt tragen, muss ein neuer, reflektierter Ansatz her. Die Entscheidungsmacht sowie finanzielle Mittel, welche durch eine zerstörerische Historie in den Händen westlicher Mächte konzentriert sind, müssen marginalisierten Perspektiven und vulnerablen Personengruppen gegenüber offen sein. Denn die Genesung des Planeten kann nur mit dem Ende von menschlicher Ausbeutung realisiert werden.

 

Links:

Rede Von der Leyen Europäisches Paralment 2019: President von der Leyen in the EP on the European Green Deal (europa.eu)

Werde-Interview mit Imeh Ituen 2021: "Ich wünsche mir radikale demokratische Lösungen" - Werde (werde-magazin.de)

FAQ der Bundesregierung zum Thema Wasserstoff, 2019: Fragen und Antworten zur EU-Wasserstoffstrategie (bundesregierung.de)

Broschüre „Kolonialismus und Klimakrise – Über 500 Jahre Widerstand“ der BUNDjugend, 2021: Kolonialismus & Klimakrise Second Edition 1.indd (bundjugend.de)

 

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