Schule in Deutschland – ein Armutszeugnis?

Ein Feature von Anne Herwig

Armut, Schwierigkeiten in der Schule und Chancenlosigkeit. Für viele sind dies Begriffe aus einer anderen Welt - doch für Nadia sind sie Alltag. Gibt es einen Ausweg für sie und ihre Familie?

©Schule Maretstraße
In der Schule lernt Nadia in einer leistungsheterogenen Klasse


Nadia dreht den Test um. Fünf. Wieder eine Fünf. Sie legt ihren Kopf ab, ballt ihre Hände zu Fäusten und schlägt sie wütend neben ihre Ohren auf den Tisch. Was würde Mama sagen? Dass sie enttäuscht ist? Dass es nächstes Mal besser werden würde? Nichts sagen und sie darum bitten, sie nicht zu nerven? Wahrscheinlich würde es wie immer auf Letzteres hinauslaufen. Nadia ist neun Jahre alt und wiederholt die dritte Klasse einer Stadtteilschule in Hamburg-Harburg.

Wie ihre Eltern ist Nadia in Deutschland geboren. Ihr Vater hat die Familie früh verlassen und ihre Mutter ist mit zwei Minijobs sowie drei Kindern oft am Rande ihrer Kräfte - und ihres Geldes. Nadias Familie ist ein Beispiel für finanziell benachteiligte Familien. Leider eines von vielen.

Allein in Deutschland leben rund 2,7 Millionen Kinder in armen Verhältnissen. Als Reaktion darauf behandelt der Green New Deal die Themen Armut, Arbeitslosigkeit sowie Ungleichheit. Beinhaltet er jedoch realistische Lösungsstrategien zur Verbesserung der Lebenssituation von Nadia?


Herkunft ist der entscheidende Faktor

Die Kinder in Nadias Klasse stammen aus Deutschland, Syrien, Rumänien, Afghanistan und der Türkei. Obwohl die Mehrheit in Deutschland geboren ist, ist Deutsch für viele nicht die Muttersprache. Dies gilt auch für Nadias Freundin Layka, deren Familie vor fünf Jahren aus Syrien nach Deutschland geflüchtet ist. Laykas Mutter arbeitete in der Heimat als Lehrerin, ihr Vater als Arzt. „Manchmal bin ich neidisch auf Laykas Noten“, sagt Nadia. Layka falle das Verfolgen des Unterrichts leichter. Sie beteiligt sich viel und möchte den Sprung aufs Gymnasium schaffen.

Die Herkunftsländer der Mädchen sind aber kein Indiz für ihren jeweiligen Schulerfolg. Diese Aussage bestätigt der Soziologe Aladin El-Mafaalani in seinem Buch „Mythos Bildung“ und nennt stattdessen die Klassenherkunft von Kindern und Jugendlichen als größten Faktor für ihren Werdegang. Kindern aus Nicht-Akademikerfamilien fällt das Lernen schwerer, nur 29 Prozent von ihnen schaffen es an eine Universität, denn es gilt: Wer die Lernziele eines Schuljahres nicht schafft, wer dem Leistungsdruck nicht gewachsen ist, der hat verloren.

Aus diesem Grund setzt der Green New Deal auf einen gesellschaftlichen Systemwandel, in welchen auch die Schulen integriert werden sollen. Ein Ausbau des Bildungssystems zur Erhöhung der Chancengleichheit steht hierbei im Fokus. Klingt nach einem guten Ziel – der Weg dahin ist jedoch lang.


Hilfsprogramme als Reaktion

In den letzten zwei Jahren war Nadias Schule oft geschlossen. Sie war viel zu Hause, sah ihre Freund*innen kaum und fühlte sich oft alleine. Zwei Stunden am Tag versuchte sie, für die Schule zu üben. Es war jedoch schwer, sich zu Hause zu konzentrieren. Für Nadia sind die Auswirkungen deutlich spürbar. Sie hängt mit dem Unterrichtsstoff hinterher, obwohl sie die dritte Klasse bereits wiederholt.

Die Stadt Hamburg stellte als Reaktion auf die Pandemie Summen in Millionenhöhe zur Förderung benachteiligter Schüler*innen bereit und entwickelte Förderprogramme, die in den Schulalltag integriert werden. Nadias Schule liegt in einem Stadtteil mit vielen einkommensschwachen Bewohner*innen. Wenig Fachpersonal und schlechte Ausstattungen führen zu einer schwachen Umsetzung der behördlichen Programme. Nadia erhält einmal in der Woche Lernförderung. Allerdings reicht das Pensum bei Weitem nicht aus, um ihre Lernrückstände aufzuholen und sie erfolgreich auf die nächste Klassenstufe vorzubereiten – das System Schule versagt, die Benachteiligung bleibt.

Seit mehreren Wochen besucht Nadia regelmäßig eine Einrichtung des Vereins „Freundeskreis DIE ARCHE Hamburg e.V.“. Hier kann sie nach der Schule mit Unterstützung ihre Hausaufgaben erledigen, mit anderen Kindern spielen oder sich mit den Betreuer*innen unterhalten. Sie genießt diese Nachmittagsstunden sehr und kommt meist viel ausgeglichener und erholter nach Hause. Eine private Trägerschaft eröffnet ihr damit Möglichkeiten, die im Schulalltag undenkbar sind. Nadia hofft, dass sich durch die Betreuung auch ihre Noten verbessern und eines Tages statt einer Fünf, eine Drei unter ihrer Klassenarbeit auftaucht.
 

Quellen:

Mythos Bildung, Aladin El-Mafaalani

Freundeskreis ARCHE e.V.

Deutsches Kinderhilfswerk e.V.

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