Alles Müll? - Aus der Tonne auf den Teller

Eine Reportage von Teresa Ulbrich

Deutschland hat ein Problem: Lebensmittelverschwendung. Viele Menschen entscheiden sich daher zur Tauch-Tour in die Mülltonnen der Supermärkte. Wir haben drei davon begleitet.

Alles für die Tonne? ©Lenawoehler.com
Alles für die Tonne?

Es ist ein Montagabend und eine Gruppe junger Menschen trifft sich auf dem Parkplatz eines Supermarktes. Der Bereich ist durch ein Parkhaus und hohe Hauswände abgeschirmt. Es dringen nur leise die Geräusche der Stadt zu ihnen. Typisch für einen Hamburger Februar, ist die Luft kalt und feucht. In einem kleinen Holzverschlag zwischen Parkanlage und umliegenden Bürogebäuden lagert der Supermarkt, abgesperrt durch ein Gittertor, seine Abfälle. Dort wollen sie hin.

Das Ziel der jungen Leute ist das Retten von genießbaren Lebensmitteln aus dem Müll des Lebensmittelmarktes, auch Containern genannt. Während Noah über das Tor klettert, warten Clara und Malte (Namen wurden geändert) davor, um das noch verwertbare Essen aus den Tonnen anzunehmen. „Meistens bringen wir uns Taschen mit, die dreckig werden dürfen. Das Essen ist immer sehr klebrig“, erzählt Noah später. „Ich freue mich immer sehr über frisches Obst und Gemüse.“ „Ja, nimm einfach alles mit“, beraten sie sich. „Da kommt ein Auto“  „–Ach, der fährt bestimmt nur hier in die Garage rein. Die gehören zu der anliegenden Firma, aber sie sind nicht dazu da, die Tonnen zu bewachen.“ Das Auto fährt vorbei, während sie so gut wie möglich versuchen, sich zu verstecken. Der kurze Schreck gehört schnell der Vergangenheit an, denn die Tonnen sind randvoll mit gutem Essen. Sie fischen es unter lautem Geknister aus dem Abfall.

Die drei gehen eigentlich immer zusammen containern. Denn alleine haben sie zu große Angst, erwischt zu werden und dann nicht richtig reagieren zu können. Oft klappern sie auf ihrer nächtlichen Tour mehrere Supermärkte ab. Meistens montags, „weil der Tag am Besten ist“. Sehr selten fahren sie mit dem Auto, wie Malte erzählt, damit sie so viel wie möglich retten können.  Die heutige Tour ist einer dieser besonderen Tage. In ihrer WG angekommen, werden sie von der Mitbewohnerin in Empfang genommen: „Wir haben richtig viel. Drei volle Ikea Tüten.“ „Ey, dann ist die Woche ja safe.“

Ein Drittel der Welternte landet im Müll

Szenenwechsel. Auch Valentin Thurn spricht in seinem Vortrag “Auf den Teller, nicht in die Tonne” am Mittwochabend der aktuellen Konferenzwoche übers Containern. Er ist Autor einiger Bücher und machte zahlreiche Filme zum Thema Lebensmittelverschwendung. Darunter „Taste The Waste“ von 2011, wofür er etliche Preise erhielt. Er ist außerdem Mitbegründer von foodsharing.de, einem Verein, der Lebensmittelproduzenten die Möglichkeit gibt, überschüssiges, aber noch genießbares Essen kostenlos von Privatpersonen abholen zu lassen.

Bei der Thurns Veranstaltung nehmen rund 350 Studierende sowie Interessierte über Zoom teil.

Valentin Thurn erzählt zunächst, dass Müll zwei Bedeutungen habe. Zum einen Abfall im klassischen Sinne, zum anderen aber auch immer Verschwendung. Laut FAO (Food and Agriculture of the United Nations) landen jährlich ein Drittel der Welternte im Müll. 90 Millionen Tonnen fallen allein in Europa an. Dies bedeutet Thurn zufolge nicht nur eine unglaubliche Verschwendung: 40 Prozent der Erderwärmung ließen sich allein auf Lebensmittel zurückführen.

Wie kommt die Lebensmittelverschwedung zustande?

Thurn nennt als Beispiel, dass die eigene Müllmenge häufig verdrängt werde: „Die Selbsteinschätzung der Verbraucher:innen ist geringer als der tatsächliche Müll.“ Außerdem lebten immer mehr Menschen in Städten, wodurch sie die Nähe zum Land verlieren würden. Darunter leide manchmal die Fähigkeit, zwischen gut und schlecht zu unterscheiden. Auch würden häufig optische Kriterien sowie das Haltbarkeitsdatum als Garant für genießbare Lebensmittel genommen.

Der Lebensmittelverschwendung wollen auch die drei Essensretter aus Hamburg entgegenwirken. Allerdings gibt es beim Containern einen Haken. Denn Angst vor Konsequenzen schwingt trotz des Erfolges immer mit. „Also ehrlich gesagt, habe ich mich nach dieser Verurteilung in München ein halbes Jahr lang gar nicht getraut, mich an dem Müll in den Tonnen zu bedienen. Hamburg sieht das, glaube ich, ein wenig gelassener: Es steht ja immer wieder in der Debatte, es zu legalisieren, beziehungsweise zu entkriminalisieren. Ich habe allerdings aus Respekt erst ein halbes Jahr nach dem Urteil wieder damit begonnen“, erzählt Noah.

Zwei Studentinnen fischten dort 2018 Lebensmittel aus dem Müll eines Supermarktes. Die beiden wollten gegen die Verschwendung protestieren: „(…) dass in Zeiten der Klimakrise der Schutz unserer Lebensmittelgrundlage hinten angestellt wird“, empfinden die beiden als Absurdität. Nachdem sie erwischt wurden, verurteilte man sie wegen Diebstahls zu acht Sozialstunden und einer Geldstrafe.

Die drei erzählen noch davon, dass es von Vorteil sei, seine Rechte zu kennen. Man zahle für das Containern als Strafe einen Geldbetrag und müsse beispielsweise Sozialstunden bei der Tafel ableisten. „Also dort, wo das Essen hätte landen können, wenn die Supermärkte es nicht in den Müll geworfen hätten. Ich finde es einfach schwachsinnig“, urteilt Malte. Strafrechtlich werde es in Hamburg nicht verfolgt, es bleibt allerdings eine undurchsichtige Grauzone.

Auch, wenn die Bundesregierung der Entsorgung genießbaren Essens entgegenwirken möchte, ist Containern in großen Teilen Deutschlands eine kriminalisierte Grauzone. „Der Gesetzgeber dürfe das zivilrechtliche Eigentum grundsätzlich auch an wirtschaftlich wertlosen Sachen durch Strafe schützen. Auch die Wertlosigkeit einer Sache, berechtige nicht zu deren Wegnahme“, erklärte das Bundesverfassungsgericht dazu.

Was hält Valentin Thurn vom Containern? „Es ist ein Skandal. Es sollte eher verboten sein, Lebensmittel wegzuwerfen.“ Solange es in Deutschland keine einheitliche Regelung gibt, wie beispielsweise Frankreich, will Malte mit dem Containern weitermachen: „Ich hole mir aus einem Mülleimer Müll und mache kein Geld damit. Brauchbare Lebensmittel werde ich weiterhin retten und sie verwerten.“

Lösungsansätze, die Valentin Thurn sieht:

  1. In Deutschland existieren bereits einige Läden, die „hässliche“ Lebensmittel verkaufen. Sie entsprechen nicht den klassischen Schönheitsidealen der Lebensmittel in den großen Supermarktketten, sind aber dennoch genießbar.
  2. Rabatt vor Ablauf des Haltbarkeitsdatums.
  3. Esskultur fördern und beispielsweise in Bildungseinrichtungen gemeinsam kochen oder gärtnern. Denn die Wertschätzung von Essen könne laut Thurn bereits früh geweckt werden.
  4. Förderung der Solidarischen Landwirtschaft.
  5. Konzepte, wie es sie in Frankreich, Belgien oder Tschechien gibt: Den Supermärkten ist es verboten, essbare Lebensmittel wegzuwerfen. Größtenteils geht das Essen hier dann an die örtlichen Tafeln.