„Das ist alles irgendwie so blutleer“
Ein Porträt von Simon-Lennard Till
Smart Cities bedeuten für viele erstmal Digitalisierung und revolutionäre Infrastruktur. Selten geht es in der Diskussion um die Zukunft der Kultur, die heute unser Stadtbild mitgestaltet und sogar prägt. Aufgrund der Corona-Pandemie mussten Veranstaltungsorte schließen, viele Künstler:innen sind praktisch arbeitslos. Als Alternative wird gerne der digitale Raum genutzt, der - wie in anderen Lebensbereichen - wohl auch nach der Pandemie bleiben wird. Ist das die kulturelle Zukunft der Smart Cities?
Der Violinist Niklas Liepe lebt und arbeitet in Hamburg. Einblicke in seinen aktuellen Alltag und die künstlerische Arbeit ohne Bühne und Publikum.
„Die Prinzessin ruft an, stört’s dich, wenn ich kurz rangehe?“ Der Feenteich, der irgendwo von der Alster abgeht, ist überfroren, es ist kalt und die größte Hansestadt ist von außergewöhnlich dichtem Schnee bedeckt. Während letzte hiergebliebene Vögel das Gästehaus des Senats beschlagnahmen, telefoniert Niklas Liepe mit der Prinzessin. Das ist kein schlechter Kosename oder gar Synonym für jemanden, sondern eine echte Prinzessin, die von Thailand. Ein deutscher Violinist berät also via FaceTime die thailändische Prinzessin, ihr Orchester oder beides.
Was macht ein Musiker, der nicht auf die Bühne darf und was macht ein Musiker, wenn der dystopisch nichtssagende Satz, alles wird anders, in der Zukunft doch wahr wird?
In diesem Augenblick sitzt eben jener Musiker in seinem Garten und erklärt der chinesischen Konzertmeisterin im thailändischen Orchester, dass sie etwas schneller spielen soll, „You have to play the daada da daa a little bit faster, more fluently.“ Das scheint wohl einleuchtend zu sein. Sieht so die Zukunft aus? So alleine im Garten beraten, digital und ohne Bühne.
„Das ist nicht immer so“
Vor zwei Wochen sitzt Niklas mit dem Cellisten Alexander Hülshoff und der gleichen Frage im Musikstudio.
Alex hat für eine Kooperation mit China, einem Projekt, das sich in diesem Fall eher als schlichter Gruß herausstellen sollte, einen guten, unkomplizierten Violinisten gesucht. Ja, beides in einer Person sei gar nicht leicht zu finden und er habe sich dann schnell für Niklas entschieden. Beide kennen sich schon lange - man könnte fast sagen - gut.
Da Niklas seit einer Woche wieder zurück aus Bangkok in Hamburg ist und er ja auch sonst nichts machen könne, habe er zugesagt.
Die beiden unterhalten sich und trinken lauwarmen Kaffee, weil alle auf das Ergebnis des Corona-Schnelltests warten. Die dazu passenden Floskeln und laienhaften Vorschläge zur sogenannten Teststrategie sollte man sich im Gespräch sparen, aber sie müssen ja auch Zeit überbrücken. “Ja, Tests sind super, ich will auch wieder in Konzerte.” Diskussionsmüdigkeit kommt auf und die Frage, wen oder was die beiden hier heute eigentlich spielen.
„Ich hab noch gar nicht reingehört, wie haben die das denn gespielt?“ – „Beethoven halt.“ – „Aber ich könnte mir vorstellen, dass das ganz interessant zusammen mit den chinesischen Instrumenten klingt.“
Die Tests sind negativ, Mikrofone und Kameras platziert: Es kann losgehen. Vorher ziehen sich beide um, so ein Gruß soll ja angemessen aussehen. Niklas‘ Anzug erinnert an Mao - ein Geschenk der Prinzessin (klar, wer verschenkt auch sonst Anzüge?). Der letzte Satz aus Beethovens siebter Symphonie ist schnell eingespielt, vier oder fünf Takes, keine langen quälenden Proben, Profis, kein Schulorchester. Hoffnungen, dass online ihnen irgendwer länger als fünf Minuten zuhört, haben sie nicht. Trotzdem entwickelt sich in der Zeit eine gewisse Spielfreude, beide suchen hin und wieder den Blick des anderen, meistens verpassen sie sich.
Mit den Worten „Das ist nicht immer so“ holt Niklas nach den Aufnahmen zwei Flaschen Scheurebe aus dem Kühlschrank. Nun scheint der Moment zu sein, über die großen Dinge zu sprechen. Die zwei Musiker leiden nicht sonderlich unter den Einschränkungen. Niklas hat in Bangkok für die Prinzessin gespielt und Alex ist mit seiner Professur und der Position als künstlerischer Direktor auch irgendwie beschäftigt, doch ein gewisser Überdruss gegenüber allem macht sich durchaus breit. Ein Musiker muss auf die Bühne. Streams, Projekte, Fernsehen, all das sei nice to have, aber doch keine Alternative, erst recht kein Ersatz. Das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker?
Schrecklich. „Also musikalisch gut gemacht, aber dieses große und wunderbare Orchester saß da so verloren im leeren Saal, als wäre man bei einer Probe anwesend. Das ist alles irgendwie so blutleer“, resümiert Alex, sodass nur noch der Blick ins leere Glas bleibt - nachschenken.
Elitäres Genre
Zurück im Garten: Ist Klassik elitär? Nach dem ersten Cappuccino erzählt Niklas recht leidenschaftlich von den offensichtlichen Problemen der Szene: „Mein Publikum stirbt doch aus!“ Was er dagegen machen wolle? Viel!
Mit seinen Album-Projekten versuche er etwas anders, etwas neu zu machen, neue Interpretationen, Kompositionen. Das Publikum sei sehr begrenzt, grenzt aus. Den Zugang zur Musik bekommt man nur durch Erziehung, Eltern oder Schule, deshalb gingen er und sein Bruder schon bei jeder Gelegenheit dorthin, vor allem in Brennpunktschulen. Beide sind auch als Veranstalter tätig, mit ihrem eigenen Festival brechen sie viele Konventionen. Kontakt zum Publikum statt Divatum, Industrie- statt Konzerthalle, alles nicht so konservativ, trotzdem bleibt der junge Ansturm in Deutschland aus.
„Den Käufern meiner CD könnte ich persönlich die Hand schütteln“, ein Scherz, aber Blick auf Spotify verrät, jeder 17-Jährige kann mit einem MacBook und mittelmäßigen Logic-Kenntnissen mehr Streams erreichen. Klassik ist vielleicht doch elitär.
November Rain
Was ist eigentlich mit David Garrett? Bei Niklas sucht man Pferdeschwanz, Lederjacke und Dreitagebart vergeblich, er weigert sich auch vehement die letzten musikalischen Ergüsse eines Axl Rose auf seiner del Gusu zu spielen. „Klassik ist auch nicht sein Ding“, jetzt wird es spannend, denn immerhin, das müsse man ihm lassen, dem Garrett, seinetwegen haben die Leute mal wieder eine Geige im Fernsehen gesehen, eine Art Influencer also.
Aber auch „November Rain“ kann man momentan so gut wie nirgendwo live spielen, selbst ein Garrett nicht - vielleicht ja aber in Bangkok? „Ich war so froh, als das Angebot reinkam. Endlich wieder spielen.“ Dafür habe er auch vierzehn Tage in Quarantäne hingenommen, Weihnachten und Neujahr allein im Hotelzimmer, er, der schon als Kind vor großem Publikum stehen wollte. Mit vier Jahren angefangen zu spielen, mit elf Jungstudium in Hannover. Dieser Beruf - der schönste, wie er selbst sagt - sei immer das Ziel gewesen.
Nun weiß keiner, wann er ihn wieder voll ausüben kann, ob seine Musik in einer Stadt wie Hamburg auch noch in ein paar Jahren den gleichen Stellenwert hat. Niklas starrt jetzt in den von ihm viel zu aufwendig zubereiteten Cappuccino - „Sonst wieder nach Asien“ - man hätte Wein trinken sollen.