Der Streit - mit Michel Friedman

Ein Interview von Simon-Lennard Till

Der Jurist, Philosoph und Publizist Michel Friedman fordert mehr Streit für die Diskussionskultur, Genauigkeit für die Sprache und stellt im Gespräch mehr Fragen, als er beantwortet.

Michel Friedman ©Simon-Lennard Till
Michel Friedman

Brauchen wir eine andere Streitkultur?

Daraus ergeben sich für mich die Fragen, wie viel Streit man aushält, wen man zum Streit zulässt und wie man streitet. Wir haben in Deutschland viele verschiedene Kulturen und was bedeutet da Streit? Also was bedeutet überhaupt der Begriff Streitkultur? Es muss auch darum gestritten werden! Ich kann deswegen Ihre Frage nur so differenziert beantworten und dazu raten, die eigene Perspektive in den Streitraum hineinzutragen, sich dabei nicht unterkomplex zu verhalten, sondern die Herausforderungen überkomplex zu beantworten.

 

Nach dem Machtwechsel im Weißen Haus gibt es weniger Streit, kaum noch Diskussion im Briefing Room zwischen der neuen Pressesprecherin, Jennifer Psaki, und den Journalisten. Das wirkt wie Overcorrection. Ist die liberale Mitte nach vier Jahren Trump harmoniebedürftig geworden?

Sie nennen zwei Begriffe, über die wir reden, die wir definieren müssen. Wenn uns zehn Leute zuhören, haben alle zehn eine andere Assoziation zu „liberaler Mitte“. Also ich weiß nicht, was Sie darunter verstehen oder nicht. Insgesamt glaube ich nicht, dass man durch das Implodieren von Streit irgendetwas erreicht, das ist wie in der Verdrängungstheorie der Psychoanalyse, daraus entsteht dann früher oder später Explosion. Ich sehe, dass wir enorm viele Streiträume haben, es wird so viel gestritten und diskutiert wie noch nie, mehr oder weniger qualitativ, aber wer soll das beurteilen?

 

Und in welcher Form?

Die Frage, die sich beim Streit besonders hervorhebt, ist die nach dem dialogischen Streit, denn das Monologisieren ist auch nichts Neues. Die zivilisatorische Herausforderung ist der Dialog, sich selbst zu bezweifeln, andere zu hinterfragen, neugierig zu sein. 

Aber das ist eine Herausforderung, die so groß ist, dass selbst die, die es beim Streiten vertreten, daran scheitern. Da empfiehlt sich immer der Blick in den eigenen Spiegel: Wie viel Energie, wie viele Zweifel und Selbstzweifel lässt man zu? Aber, dass jeder jeden kritisieren kann und kritisiert, erleben wir an allen Ecken und Enden.

 

Trotzdem gibt es Angst vor Streit.

Wie weit da Machtunterdrückungsmechanismen pro aktiv unterwegs sind, kann ich nur am Einzelfall diskutieren. Eins aber fällt mir auf: Dass die Selbstunterdrückungsmechanismen viel zu groß sind im Vergleich zu dem Preis, den wir für eine Meinung zahlen. Wir sind als Menschen sehr ökonomisch mit unserer Energie, und Streit kostet extrem viel Energie. Also evaluieren wir, um Energieverluste zu vermeiden, ob ein Streit diese wert ist.

 

Ein Beispiel?

Ein Beispiel: Sie streiten sich mit dem Präsidenten Ihres Tennisclubs, weil der gesagt hat, „Frauen sind so und so“.  Dann werden Sie evaluieren, was passiert, wenn ich das tue? Wird man mich rausschmeißen? Wird man mich mobben? Das sind nicht immer bewusste, aber trotzdem gelernte Prozesse, die bewirken, dass Leute sich oft dafür entscheiden, den Streit zu vermeiden, auf diesen Freiheitsmoment zu verzichten, weil sie opportunistisch oder opportun denken. Das ist aber keine Rechtfertigung, die aus dem politischen System kommt, sondern ausschließlich mit der freien Entscheidung - „Es war es mir nicht wert“ - zusammenhängt.

 

Nun gibt es Menschen aus dem rechten Spektrum - eine streitbare Kategorisierung -, die sagen würden, dass ihre Meinung unterdrückt wird. Bernd Lucke musste aufgrund eines Protestes an der Universität Hamburg den Hörsaal unter Polizeischutz verlassen. Er hat ja auch mal Ihre Sendung verlassen...

Ohne Polizeischutz. Er konnte eine Frage nicht aushalten.

 

Sind die Leute denn überhaupt streitfähig?

Ich kann damit umgehen, dass jemand eine Frage nicht aushalten kann. Sie sprechen aber eine aktuell große kulturpolitische Frage an, die wir unter den Schlagworten “Cancel Culture” und “Political Correctness” diskutieren. Ist Herr Lucke satisfaktionsfähig, an einer Universität aufzutreten? Wo sind die Maßstäbe dafür und wer formuliert das? Muss ein demokratischer Diskursraum viel aushalten? In den USA ist das Leugnen des Holocausts eine freie Meinungsäußerung, hier eine Straftat. Sollte ein Antidemokrat ein Forum an einer staatlichen Hochschule bekommen? All das sind sehr ernste Fragen, keine neuen, die uns aber in digitalen Verhandlungen die Zeit nehmen, darüber ein bisschen länger - in welche Richtung auch immer, die will ich gar nicht präjudizieren - nachzudenken. Es gibt eine außerordentliche Kraft in solchen Debatten, in denen die Polarisierungen der Meinungen aufeinanderprallen, und manchmal frag ich mich, um wen geht es jetzt wirklich, ist das nur ein Vorwand oder berechtigte Kritik?

 

Ist das ein neues Phänomen?

Nein, also zu meiner Studienzeit gab es auch schon irgendwelche Sit-ins, weil A oder B einen Vortrag gehalten hat. Das konnte dann schon ein Wirtschaftswissenschaftler sein, der kapitalistisch orientiert war. Trotzdem ist es wichtig, zu fragen, welchen Inhalt erzählt dieser Gast und aus welcher Geisteshaltung kommt dieser Gast? Und wenn diese Diskussionen und Proteste über die nächsten Jahre auftreten, stellt sich - gerade an Hochschulen - die Herausforderung, nicht in „Ich hatte recht, du hattest recht, keiner hatte recht“-Haltungen zu verfallen, sondern darüber zu streiten, sich zu reflektieren, sich zu hinterfragen, was waren die Motive, was waren die Argumente, was waren die Aktionsformen? 

 

Können das die Universitäten denn?

Die Hochschulen sind kein Paradies, sie sind nicht der Hort des Humanismus, der Demokratie. Studentinnen und Studenten, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und auch Professorinnen und Professoren sind politische Wesen, das macht die Konfliktsituation deutlich. Also über das ob des Protestes muss geredet werden, aber bei allem ob auch über das wie. Im Moment, wo Leute jemanden, dem sie vorwerfen würden, dass er geistige Brandstiftung begeht, selbst mit unzivilisierten Maßnahmen nötigen, deswegen die Polizei kommen muss, um die körperliche Unversehrtheit desjenigen zu gewährleisten, haben diese Leute, auch wenn sie sich völlig zurecht gegen sowas aussprechen, den Boden des Zivilisierten verlassen. Gab es dafür einen Grund? War das die ultima ratio des Verhaltens? Ich muss ganz ehrlich sagen, egal wer, auch Leute wie Herr Gauland, haben - wie Sie und ich - einen Anspruch darauf, vor jeglicher Gewalt geschützt zu sein. 

 

Würden Sie sich selbst als konservativ bezeichnen?

Ich würde mich nie als konservativ bezeichnen, dafür bin ich viel zu dynamisch. 

 

Kann Konservativismus nicht dynamisch sein?

Ich wüsste nicht wie. Da müssten Sie mir erstmal Ihre Definition von Konservativismus erläutern. Wie definieren Sie das? Wenn es darum geht, die Werte des Grundgesetzes zu bewahren, bin ich äußerst konservativ, aber nicht im Sinne des Lebens, wir können noch mehr mit diesen Werten erreichen. Mir reicht das einfach noch nicht. Und wenn diese Werte Zivilisiertheit und Humanismus sind, dann ist es mir wichtig, zu fragen: Was meinst du damit? Wie viel gibst du rein und wo fällst du zurück? Das ist dynamisch aber muss nicht kontradiktisch zu diesem Begriff stehen, aber ich wollte es nochmal mit Ihnen differenzieren. Das würde übrigens dem Diskurs guttun, der Streitkultur: Mehr nachfragen, was meinen Sie eigentlich, damit man nicht auf Basis von Missverständnissen ein Gespräch führt. Da rate ich zur Begriffsklärung.

 

Ein verstärktes Beschäftigen mit Sprache im Allgemeinen wäre wünschenswert.

Sie sprechen mir aus der Seele. 

 

Gibt es das italienische Restaurant noch, wo Sie in der Sendung „Durch die Nacht mit...“ für Christoph Schlingensief Trüffelspaghetti bestellt haben?

Nein.

 

Schade.

Aber viel schlimmer ist, dass Christoph nicht mehr lebt.