Kann man dem Volk heute mehr Vertrauen als damals?

Eine Glosse von Ricarda Goetsch

Kann man 30 Jahre nach der Wiedervereinigung dem deutschen Volk vertrauen? Die Meinung des Thüringer Ministerpräsidenten Bodo Ramelow und der Flugplatz einer nordischen Hansestadt spielen bei der Beantwortung dieser Frage eine zentrale Rolle.

Bürgerbeteiligung statt Politikverdrossenheit ©Pixabay: https://pixabay.com/de/photos/wegweiser-verkehrszeichen-schild-2713360/
Bürgerbeteiligung statt Politikverdrossenheit

Es war einmal eine kleine Stadt im Norden Deutschlands. Bekannt ist diese Stadt wegen ihrer exzellenten Studierenden, eines unglaublich schönen Flusses und vor allem wegen des Salzes. Spätestens jetzt solltest du wissen, welche Stadt gemeint ist! Die Saltcity Lüneburg, wie sie die örtliche Antifa in Stickern auf Ampeln betitelt, ist im Jahre 965 – also vor über tausend Jahren – zum ersten Mal urkundlich erwähnt worden, doch ihren ersten Bürgerentscheid hat sie erst vor einem Jahr gehabt. An neu zugezogene Erstis mag dieses geschichtsträchtige Ereignis vorbeigegangen sein, doch das soll dieser Artikel ändern. Selbst der einzige Ministerpräsident der Linken, Bodo Ramelow, der am Mittwoch den 25. Februar zu Gast bei der Konferenzwoche bei der besten – und einzigen – Universität Lüneburgs, der Leuphana, ist, kennt dieses Ereignis. 

„Nach 30 Jahren deutscher Einheit, sieht das natürlich wieder ganz anders aus“

Im Mai 2020 hat in Lüneburg der erste Bürger:innenentscheid seit Wetteraufzeichnungen stattgefunden. Dabei haben die Einwohner:innen Lüneburgs und ach ja, auch die in Lüneburg gemeldeten Studierenden, die nach ihrem Bachelor oder Studienabbruch wahrscheinlich eh wieder aus der Stadt wegziehen, für den Erhalt dieses sagenumwobenen Flugplatzes entschieden. Auch Ramelow nennt dieses bombastische Ereignis ein gelungenes Beispiel für eine Bürger:innenbeteiligung. Und kommt direkt zum Großen Ganzen: Er bedauert, wie er sagt, dass die „Väter und einige Mütter unserer Verfassung, in diese damals reingeschrieben haben, dass man dem Volk noch nicht so ganz traut“. Jetzt, nach 30 Jahren deutscher Einheit, wären wir besser damit gefahren, wenn wir schon die Volksabstimmungen zur neuen Verfassung gehabt hätten.

Aber ist das wirklich so? Sollte dem Volk mehr Entscheidungsgewalt übertragen werden? Würde mehr politische Partizipation in Form von Bürger:innenentscheiden wirklich die Demokratie retten? Man müsste meinen Ja, denn diese Frage ist neben „Arbeit retten?“ und „Wohlstand retten?“ Impulsgeber der Vorträge auf der diesjährigen Konferenzwoche. Und wäre es nicht ernüchternd für die Leuphana, wenn die geladenen Gäste nicht einmal annähernd Antworten auf diese Fragen geben würden?

Es ist anzunehmen.

Gerade deshalb diskutiert Ramelow mit Claudine Nierth, der Bundesvorsitzende von Mehr Demokratie e.V. darüber, was Volksentscheide für Vorteile und nochmals Vorteile mit sich bringen und wie diese politische Partizipation die Demokratie retten kann. In ganzen 16 Minuten hat die vorher groß angekündigten Prominenz die Möglichkeit, eine hitzige Diskussion zu führen. Die erhoffte Debatte fällt jedoch komplett aus, da den beiden nichts anderes tun, als sich von Anfang an gegenseitig zuzustimmen. 

Fürchtet die Leuphana erneuert ein Die-in?

Ein Debattenformat ohne Debatte – wie kann das passieren? Liegt es an der fehlenden Bereitschaft der Gäste an einer Veranstaltung teilzunehmen, bei der es um wirkliche Überzeugungskraft und Schlagfertigkeit geht? Oder fürchtet die Leuphana ein erneutes Die-in, wie es bei der letzten KoWo während eines Vortrags von Olaf Scholz der Fall war? Mit einem Die-in wollen Menschen, durch Totstellen, ihren Unmut zu einer gewissen Person, Lage oder Meinung zeigen. Ein Die-in – oder wohl eher ein Die-online – ist natürlich wirklich eine bedenkliche Angelegenheit. Aber jetzt mal im Ernst, wie gewinnbringend ist eine Diskussion, in der beide Parteien der gleichen Meinung sind? Naja, wenigstens wissen die Erstis jetzt, dass es einen Flugplatz gibt...

Passenderweise bekommen die Studierenden nicht die Möglichkeit, selbst ein paar kritische Fragen zu stellen. Sonst könnte noch die Frage aufkommen, ob Bürger:innenbegehren vor allem in Hinblick auf die aktuelle Pandemie, in der Bürger:innen den Reichstag stürmen und Querdenker:innen Seite an Seite mit Rechtsextremen demonstrieren, wirklich die Demokratie retten können. Oder ob 30 Jahre deutsche Einigung ausreichen, um dem Volk wieder zu vertrauen. 

 

Zumindest können noch Flugzeuge in Lüneburg landen.