“Man wird schnell dazu verleitet frontaler zu arbeiten”

Eine Reportage von Sahra Vittinghoff

Das Tablet ist an der Schule am Dobrock seit 2018 festes Lernmittel aller Schüler:innen ab dem 7. Jahrgang. Doch trotz der modernen Ausstattung sehen sich Lehrer:innen und Schüler:innen im Lockdown besonderen Herausforderungen gegenübergestellt.

Die Schule am Dobrock ist wegen des Lockdowns zurzeit geschlossen. Den Schüler:innen ist es währenddessen möglich mit ihren Tablets an Videokonferenzen teilzunehmen. ©Bolowski/CC0
Die Schule am Dobrock ist wegen des Lockdowns zurzeit geschlossen. Den Schüler:innen ist es währenddessen möglich mit ihren Tablets an Videokonferenzen teilzunehmen.

Donnerstag, 7:50 Uhr. Matthias Kamphausen beginnt seinen Geschichtsunterricht mit einer Aufwärmübung. Es sind Bilder von meuternden Soldaten, Demonstranten und Wahlplakaten aus der Gründungszeit der Weimarer Republik zu sehen. Noch melden sich nicht viele zu Wort. Nur ein paar Schüler:innen beginnen die Bilder kurz zu beschreiben.

Soweit erinnert der Unterricht an einen ganz normalen Schultag. Denn müde und wortkarge Schüler:innen sind zu so früher Stunde nichts Ungewöhnliches.

Das was den Unterricht vom normalen Schulalltag unterscheidet ist das Format - die Plattform Iserv. Statt neben seinem:seiner Sitznachbar:in in der Schule, befinden sich die Schüler:innen - abgesehen von den Abschlussklassen - derzeit zu Hause vor ihren Tablet-Bildschirmen.

Nicht alle Quellen auf Youtube sind vertrauenswürdig

Es folgen Markierungen auf den Bildern, Diskussionen und inhaltliche Aufgabenstellungen. In einer Gruppenarbeit werden dann Hausaufgaben über OneNote - ein Tool zum Teilen von Dokumenten - verglichen. Einige Lernende sind inzwischen aktiver, andere immer noch still. Eine Schülerin kommentiert, dass sie beim Bearbeiten der Hausaufgaben Schwierigkeiten hatte. Der eigenständig zu bewältigende Stoff ist für die Schüler:innen nämlich gar nicht so einfach.

Das Problem ist, dass man dem Lehrer bei Fragen eine E-Mail oder eine Nachricht über Messenger schreiben muss,” erzählt die Neuntklässlerin, “in der Schule geht das sehr viel schneller. Dort kann man direkt zum Lehrer.”

Doch zum Glück gibt es Youtube. Was die Schüler:innen über die Texte nicht verstehen, können sie sich dort in einfacher Sprache erklären lassen. An diesem Punkt äußert sich Kamphausen allerdings kritisch. Zwar findet er ergänzendes Material zum Unterricht gut, doch ist hierbei auch auf die Quelle der Informationen zu achten. Er verweist daher auf MisterWissen2go - einen Youtubechannel vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Dieser Vorschlag wird von der Klasse positiv angenommen.

Wenn ihr alles verstanden habt, sendet einen Grinsesmiley”

Der Geschichtsunterricht neigt sich dem Ende. Die Ergebnisse werden gemeinsam in eine Tabelle eingetragen. Während Kamphausen Stichpunkte eintippen kann, können die Schüler:innen mit ihrem Tablet nur die Stiftfunktion verwenden. Dadurch sind ihre Ergänzungen etwas schwerer zu entziffern, aber immerhin geht die Interaktivität nicht komplett verloren. Das möchte der Geschichtslehrer nämlich unbedingt vermeiden.

Ich versuche es nicht so zu strukturieren, dass ich sage: Hier sind die Aufgaben, ihr bearbeitet die bis nächste Woche und ich schicke euch die Lösungen zu,” erklärt der Lehrer der neunten Klassen.

Diese Motivation wird im Laufe seines Unterrichts erkennbar. Immer wieder spricht er die Schüler:innen direkt an, damit nicht nur die ohnehin aktiven etwas zum Unterricht beitragen. Sobald jemand Schwierigkeiten hat, gibt er Hilfestellung und er ermutigt dazu sich selbst bei Unsicherheiten zu melden. Zum Schluss fordert er dann noch die Schüler:innen auf: “Wenn ihr alles verstanden habt, sendet einen Grinsesmiley.” Auf dem Bildschirm ploppen sofort viele grinsende Emojis auf.

Siebtklässler diskutieren online über Werte und Normen

10:30 Uhr. Der Politikunterricht der Klasse G7 beginnt mit einer Leitfrage. “Wie treffen wir Entscheidungen?” fragt der Lehrer Chris Bormann seine Schüler. Doch bevor diese Frage beantwortet werden kann, müssen die Begriffe “Werte” und “Normen” erklärt werden. “Werte sind von Mensch zu Mensch anders”, beginnt eine Schülerin einen Versuch, “jeder hat seine eigenen Wertvorstellungen, die sich im Laufe der Jahre ändern können.” Daraufhin meldet sich ein weiterer Schüler und sagt: “Werte sind Dinge, die einem sehr wichtig sind im Leben.” Und was sind Normen? “Normen setzen in der Regel Werte um”, erklärt eine andere Schülerin. Wirklich nicht schlecht. Die Hausaufgaben wurden also gemacht. Herr Bormann fügt dann noch das bekannte Gebot “Du sollst nicht töten.” hinzu. Denn die zehn Gebote sind historisch gesehen als sogenannte “erfundene Ordnung” sehr wichtig, da es sowas wie Gesetze vorher nicht gab.

Dass die Videokonferenz so aktiv ausfällt ist nicht immer der Fall. In einen Bildschirm hinein zu sprechen bedeutet Überwindung.

So Tage wie heute waren okay, aber es gab auch schon Veranstaltungen bei denen ich eine Dreiviertelstunde monologisiert habe,” erzählt Bormann.

Daher bemüht er sich ähnlich wie Kamphausen die Kinder interaktiv in den Unterricht einzubeziehen. Hilfreich sind die sogenannten Breakout-Rooms. Dort können sich die Lernenden ungestört austauschen. Der Lehrer schaltet sich währenddessen nur ab und zu hinein, um nach dem Rechten zu sehen.

Ist die Maskenpflicht ein Normverstoß?

Die Balance zwischen den eigenen Werten und den Grundwerten - Freiheit, Gleichheit und Leben - ist für das gesellschaftliche Beisammensein sehr wichtig. Doch wie ist diese Balance möglich? In Gruppen eingeteilt diskutieren die Schüler:innen über ein Bild. Zu erkennen ist ein vermummter Mann mit Schutzbrille und einem Stein in der Hand. Die Kinder nehmen seine Körpersprache als aggressiv wahr. Seine Vermummung sehen sie als Indiz für kriminelle Aktivitäten. Bormann leitet an der Stelle auf die Maskenpflicht über. Ist das Tragen einer Maske etwa ein Normverstoß? Denn einige empfinden die Maskenpflicht als Kontrast zum Vermummungsgesetz. Fest steht: Es ist zurzeit unerlässlich.

Doch was hat das Bild mit der Einstiegsfrage zu tun? Die Schüler:innen kommen zu dem Schluss, dass Entscheidungen ein Abwägen zwischen “richtig” und “falsch” im Verhältnis der Gesetzgebungen ist.

Kann Homeschooling den normalen Unterricht ersetzen?

Lehrer:innen sowie Schüler:innen sind sich einig. Auf Dauer kann Homeschooling den normalen Unterricht nicht ersetzen. Vor allem da der soziale Kontakt und das Miteinander fehlt. Eine Schülerin empfindet das Fehlen ihrer Mitschüler:innen als besonders traurig.

Ich weine öfters, weil ich nicht mehr so viel sozialen Kontakt habe”, erzählt die Siebtklässlerin, “ich finde es halt blöd, dass wir uns nicht mehr sehen können.”

Für Kamphausen steht fest, dass er seinen Beruf eben wegen der persönlichen Komponente ausgesucht hat und nicht auf Dauer vor einem Bildschirm sitzen möchte.

Wenn ich das jetzt so immer machen müsste, dann wäre ich nicht Lehrer geworden”, sagt er lachend, “mir fehlt natürlich der Kontakt im Klassenraum, wo man auch manchmal herum albert und Blickkontakt hat.”

Auch Bormann empfindet die Videokonferenzen als unpersönlich. Vor allem sieht er im Unterrichtsstil ein konkretes Problem.

Man wird schnell dazu verleitet frontaler zu arbeiten,” beschreibt er, “die Aktivität des Individuums ist gehemmt.”

Das Homeschooling bringt allerdings auch nützliche Lehren mit sich. Zum Beispiel könne es gut zur Reflektion des eigenen Unterrichtsstils dienen. Einige Schüler:innen lernen sogar von zu Hause aus besser, da sie dort ihren Freiraum haben. Ähnlich wie beim normalen Unterricht ist das eine Frage des Lerntyps. Die digitalen Sprechstunden für die Schüler:innen empfindet Kamphausen zudem als sinnvolle Ergänzung zum normalen Unterricht.