Mobilitätswende vs. Kulturdenkmal-Brücke

Ein Feature von Nell Scheffler

Die Idee von Grünen Politiker:innen: die Mobilitätswende in Hamburg voranbringen. Aber ein Viertel wehrt sich. Besteht kein Wille für moderne Veränderung? Oder ist der Preis für die Mobilitätspläne zu hoch?

Nach zahlreichen Bürger:innenprotesten wurde die Politik überzeugt. Ein kultur- und geschichtsträchtiger Ort in Hamburg bleibt nun doch erhalten. Zur Freude von Anwohner:innen und Kulturszene dürfen eine denkmalgeschützte Brücke und angrenzende Kulturinstitutionen weiterhin existieren.

Zu einer solchen positiven Meldung kommt es dieser Tage nicht. Im Gegenteil: Ein Stadtteil in Hamburg droht einen außergewöhnlichen Aufenthaltsort zu verlieren. Ein Arrangement an Altbauten, Clubs, Bars und ein bemerkenswertes Bauwerk: die Sternbrücke. Ein Kulturdenkmal mit über 100 Jahren Geschichte.

 Die Sternbrücke in Hamburg, wie sie heute aussieht ©Nell Scheffler
Die Sternbrücke heute

Seit etwa einem Jahr geht es im Hamburger Schanzenviertel heiß her: Die Sternbrücke soll abgerissen und durch eine neue, praktischere Brücke ersetzt werden. Der viel diskutierte Entwurf einer Stahlstrebenkonstruktion wird von Medien, Protestierenden und Anwohner:innen mittlerweile nur noch „Monsterbrücke“ genannt. Größer, breiter, höher. So soll die Brücke werden. Das Ziel der Politik: Ein Beitrag zur Mobilitätswende in Hamburg. 

 

Tjarks‘ Traum der Mobilität

Grünen Politiker Anjes Tjarks, Hamburgs Verkehrssenator, ist Initiator der Neubauidee. Er möchte den Verkehr um und auf der Sternbrücke innovativer gestalten. Tjarks Widersacherin ist die Initiative Sternbrücke. Seit Planungsbeginn der modernen Alternative zur über 100 Jahre alten Sternbrücke, engagiert sich die Initiative gegen den Abriss des Kulturdenkmals.

Hamburgs Behörde für Verkehr und Mobilität hat sich zum Ziel gesetzt, die allgemeine Verkehrssituation der Stadt emissionsfreier zu gestalten. Auch die Sternbrücke ist als Dreh- und Angelpunkt sechs verschiedener Verkehrsrichtungen ins Visier des Verkehrssenators geraten. Tjarks möchte rund um die Sternbrückenkreuzung den Schienenverkehr stärken, Fahrradwege ausbauen und Busspuren einrichten. Alternativlos sei hierfür ein Neubau der Brücke, betont der Grünen-Politiker. Das gesetzte Mobilitätsziel im Blick bezeichnet Anjes Tjarks die alte Sternbrücke als „Hemmschuh für die Mobilitätswende“.

 

Entwurf für die neue Brücke ©Deutsche Bahn, Vössing Ingenieurgesellschaft mbH
Entwurf für die neue Brücke

Mobilitätswende. Für welchen Preis?

Die Initiative Sternbrücke sieht dies nicht so. Seit der Neubau geplant wird, stellt sie sich diesem mit Petitionen, Protestmärschen und Gegenentwürfen in den Weg. Denn laut der Initiative hängt an dem Sternbrücken-Neubau viel mehr, als das Ziel das hohe Verkehrsaufkommen rund um die Brücke klüger zu organisieren. 

Die Kreuzung an der Sternbrücke ist nicht bloß eine Kreuzung. Sie ist ein urbaner Aufenthaltsort mit typischem „Schanzen-Feeling“. Hier kreuzen sich neben Autos und anderen Verkehrsteilnehmer:innen auch Kunst, Kulturen und Geschichten. So versucht jedenfalls Merle die besondere Stimmung dieses belebten Ortes einzufangen. Sie ist Mitglied der Initiative Sternbrücke und analysierte die Sternbrückenkreuzung schon, bevor für diese Abrisspläne gehegt wurden. Seit 100 Jahren existiert die Sternbrücke in ihrer jetzigen Form. Deshalb hat sich dieser Ort architektonisch kaum verändert und sich dabei auf seine eigene Art geformt. 

„Authentisch, weil es irgendwie alt ist und neu und irgendwie ein bisschen dreckig“, so empfindet Merle die sternförmige Kreuzung. Mit der Zeit siedelten sich drei Clubs und Bars in den Gewölben unter der Brücke an. Eine alternative Clubszene entstand, ein Ort voll Diversität und Subkultur entwickelte sich. Nach einem Abriss würden die Club-Gewölbe nicht mehr existieren. Eine heiße Diskussion herrscht daher gerade über die Planung eines nahegelegenen neuen Clubhauses, in das die Nachtclubs umziehen könnten. Fraglich ist hier jedoch, ob der Platz wirklich für alle Clubs, Bars und Galerien reicht, die ein neues Zuhause benötigen würden. Und: Schafft es dieser Underground-Flair tatsächlich mit in den großen Neubau einzuziehen?

Authentizität ist ein Grund, aus dem viele Menschen in der Umgebung wohnen. Die Altbauten, die wenige Meter von der Brücke entfernt stehen, sollen der neuen, größeren Brücke weichen. „Die Menschen, die dort wohnen in den Häusern, die abgerissen werden sollen, die haben ganz klar verloren“, sagt Merle. 

 

Protestplakate an der Sternbrücke ©Nell Scheffler
Protestplakate an der Sternbrücke

Die Sache mit der Ästhetik

Ein Preis, der definitiv bezahlt wird, sobald eine neue Brücke das Kulturdenkmal ersetzt, ist der der Ästhetik. Das uralte Bauwerk mit langer Geschichte hat die Umgebung der Sternbrücke zu der gemacht, die sie heute ist. Sie ist nicht nur beliebter Wohn- und Aufenthaltsort vieler Hamburger:innen, sondern auch ein fotogenes Monument des Stadtteils. Heißgeliebt in der Kunst- und Musikszene. Die Sternbrücke ziert das Cover eines Albums des Hamburger Musikers Jan Delay und hat es in den Film „Soulkitchen“ des Regisseurs Fatih Akin geschafft. Akin befürchtet diesen ästhetischen Filmort durch einen Abriss des Bauwerks zu verlieren, teilte er in einer Videobotschaft auf den Social Media Kanälen der Initiative Sternbrücke mit. 

„Monsterbrücke“. Diese Bezeichnung für den Neubauentwurf hat sich in der Sternbrückendebatte bereits eingebürgert. Allein für den Transport der massiven Brücke müssten 44 Bäume in den anliegenden Straßen gefällt werden. Anwohner:innen würden in Zukunft auf ein Bauwerk blicken, dessen Stahlstrebenaufsatz ihnen höchstwahrscheinlich die Aussicht verstellt. Ungemütlicher könnte die Kreuzung auch für diejenigen werden, die Merle als Sternbrücken-Kennerin „die Verweilenden“ nennt:  Menschen, die sich Tag und Nacht an der Sternbrücke aufhalten, auf den Straßen und am Kiosk.

Abzuwarten bleibt, wer diesen Kampf gewinnt. Da Tjarks an den Abrissplänen festhält, könnten Anwohnende als nächstes klagen. Vielleicht ketten sich Aktivist:innen an die Brücke. Als letzten Protest.