Power to the Provinz

Wie eine Gemeinde die Zukunft vorlebt

Ein Feature von Bo Sturm

In einem kleinen Ort im Nordwesten Baden-Württembergs findet ein neuartiges Designkonzept Anwendung. Kritiker:innen reden von Verschwendung, Befürworter:innen von Revolution. Die Wahrheit liegt in Straubenhardt.

Blick auf Straubenhardt ©Gemeinde Straubenhardt
Blick auf Straubenhardt

Meist passiert es, wenn das Essen gerade auf dem Tisch steht. Der Melder klingelt, Alarm. Nun muss es schnell gehen. Auf zur Wache, rein ins Fahrzeug und Abfahrt Richtung Einsatzort. Wenn es brennt, ist die Freiwillige Feuerwehr Straubenhardt binnen Minuten zur Stelle. Bekanntheit erlangte sie in den letzten Monaten jedoch nicht für ihr schnelles Eingreifen. Etwas anderes brachte sie über die Grenzen Baden-Württembergs hinaus ins Gespräch.

Die Rede ist vom Neubau des Straubenhardter Feuerwehrhauses – ganz nach den Prinzipien des Cradle to Cradle Designkonzepts. Das vom Stuttgarter Architekturbüro Wulf Architekten entwickelte Gebäude zielt darauf ab, während und nach seiner gesamten Nutzungsdauer keinen Abfall zu produzieren. Durch die Verwendung guter und gesunder Materialien können alle Komponenten nach der Nutzung in ihre Grundbestandteile zerlegt und gänzlich recycelt werden. Das Gebäude ist somit frei von Giftstoffen und dient gleichzeitig als urbaner Ressourcenspeicher.

Das neue Feuerwehrhaus in Straubenhardt ©wulf architekten
Das neue Feuerwehrhaus in Straubenhardt

Als eines von mehreren Projekten, verwirklicht die 11.000 Einwohner:innen umfassende Gemeinde hier das, was der Gemeinderat im Mai 2019 beschloss: Straubenhardt wird die erste Cradle to Cradle Modellgemeinde Baden-Württembergs. In jederlei Hinsicht ein absolutes Novum.

Das als „C2C“ abgekürzte Konzept wurde Ende der 1990er Jahre von Michael Braungart, Professor für Cradle to Cradle und Öko-Effektivität und Architekt William McDonough entwickelt. Es propagiert eine Welt ohne Abfall, in der das Ziel der Klimaneutralität durch die Idee von klimapositivem Handeln abgelöst wird. Ganz nach dem Prinzip - nicht weniger schlecht, sondern gut - sollen Emissionen und Abfälle nicht weiter reduziert, sondern grundsätzlich neu gedacht werden. Abfall ist Nahrung. Emissionen können positiv sein. Das wohl treffendste Beispiel ist ein Kirschbaum. Durch Photosynthese bindet er CO2 und produziert Sauerstoff, wodurch er einen positiven Einfluss auf seine Umwelt hat, zugleich sind seine Früchte essbar - für Mensch und Tier. Wirft der Baum im Frühsommer seine Blüten zu Boden, so enden diese nicht als Müll, sondern bilden Nahrung für Organismen und Mikroorganismen. Sein Laub bildet in Herbst und Winter Nahrung und Schutz für Insekten und Kleintiere. Auch Gebäude und ganze Städte können nach diesem Vorbild gestaltet werden. Angelehnt an diese Denkweise sollen auch Produkte und Prozesse durch ein natur-ähnliches Design in Kreisläufen zirkulieren und einen positiven Einfluss auf die Umwelt haben. Essbare Sitzbezüge, biologisch abbaubare Bierdosen und Teppiche, die die Luft reinigen. Klingt utopisch, ist aber längst Realität.

„Gebäude wie Bäume und Städte wie Wälder“

An einem Vortrag des C2C-Mitbegründers Braungart im Jahr 2015 nahm auch Helge Viehweg, Bürgermeister der Kommune Straubenhardt, teil. Begeistert von der Vision, „Gebäude wie Bäume und Städte wie Wälder“ gestalten zu wollen, brachte Viehweg den 63-jährigen Chemiker kurzum ins beschauliche Straubenhardt. Die Beteiligten waren schnell überzeugt und mittels eines einstimmigen Gemeinderatsbeschlusses wurde der Grundstein für die Errichtung einer C2C Gemeinde gelegt.

Fünf Jahre später sind bereits einige der Vorhaben umgesetzt oder stehen kurz vor der Finalisierung. Neben dem Neubau der Feuerwache werde schon jetzt versucht beim öffentlichen Einkauf Cradle to Cradle-inspirierte Kriterien zu berücksichtigen. An einer verbindlichen C2C-Beschaffungrichtlinie werde aktuell gearbeitet, erklärt Lorena Zangl. Sie ist bei der gemeinnützigen Cradle to Cradle NGO als Referentin für Städte und Kommunen tätig und begleitet in dieser Funktion die Projekte in Straubenhardt. Vom Bürostuhl, über Baumaterialien bis hin zum Automobilbereich werde dort auf Cradle to Cradle gesetzt. Wenig verwunderlich ist, dass die hierbei höheren Anschaffungskosten auch kritische Stimmen in der Bevölkerung auslösen. Doch die Rechnung geht auf. Bauen nach “C2C”-Maßstäben bedeute längere Nutzungsdauer, geringere Betriebskosten, sowie die Nutzung eines gesunden Gebäudes, so Zangl. Gerade Letzteres sei entscheidend, da beim Bau konventioneller Gebäude oft gesundheitsschädliche Chemikalien verwendet würden, die sich negativ auf die Gesundheit der Nutzer:innen auswirken.

Die Zukunft bleibt zirkulär

Ein wichtiger Aspekt, um alle Bürger:innen von den Vorteilen des Straubenhardter Sonderweges zu überzeugen, ist Aufklärung über die Ziele und Praktiken von “C2C”. Wie Bürgermeister Viehweg erklärt, soll in ein paar Jahren jede:r im Ort wissen, was der Begriff bedeutet. Um dies zu erreichen, ist die Errichtung einer “C2C”-Regionalgruppe bereits in vollem Gange. Denn zufrieden geben will sich Straubenhardt mit dem bisher Erreichten nicht. Neben der Ausstattung aller öffentlichen Einrichtungen und Berufe werden in Zukunft auch die Bau- und Flächennutzungspläne nach den Kriterien des “C2C”-Designkonzeptes gestaltet. Konkret bedeutet dies die Nutzung wiederverwendbarer und gesunder Baumaterialien, das Beachten von Rückbaufähigkeit, sowie die Förderung der Biodiversität, alles unter ausschließlicher Verwendung erneuerbarer Energien. Wer also zukünftig in der Gemeinde bauen und wirtschaften möchte, kommt um ein wenig Kreislaufdenken nicht herum.

Der mutige Weg Straubenhardts führt in eine Richtung, die in wenigen Jahrzehnten vielerorts in Deutschland Realität werden könnte: Gesundes Wohnen, Abfallvermeidung durch Kreislaufnutzung von Ressourcen und nicht zuletzt gesteigerte Lebensqualität durch klimapositives Verhalten. Straubenhardt nimmt in bescheidener Manier eine avantgardistische Rolle in der nachhaltigen Stadtentwicklung ein. Wie ein neues Normal aussehen kann, lässt sich hier live erleben. Die Kirche bleibt im Dorf: Bei Bäckerei Kaltenbach gibt es weiterhin Brötchen und auch der Postbote kommt noch – allerdings mit Uniform aus recycelter Nylonfaser.