Von Duschspitzen und Schlaftrackern: Die Strukturen des dezentralen Alltags

Ein Feature von Alexandra Preißler

Nie war der Weg in die Uni kürzer. Vorlesungen in Jogginghose, Duschen in der Mittagspause und selbstgekochte Pfannengerichte statt dem ewig gleichen Mensaessen. So zumindest schildert eine Lüneburger WG den Alltag im digitalen Semester, die den neuen Strukturen nicht nur Positives abgewinnen kann.

WG-Küche ©Alexandra Preißler
WG-Küche

Es ist Donnerstagmorgen. Der Zeiger der hölzernen Wanduhr zeigt auf die 9. In der Luft liegt der Geruch von leicht verbranntem Toast und die Espressokanne auf dem Herd blubbert gemächlich vor sich hin. Während Céline und Farina bis zum Beginn des Online-Seminars noch eine ganze Stunde ausgedehnt frühstücken können, stopft sich Jesse hastig ein Marmeladen-Toast in den Mund. In 30 Minuten muss er an der Arbeit sein. Unzählige Pakete warten darauf, über hunderte von Stockwerken ihren rechtmäßigen Besitzern übergeben zu werden. Auf Céline und Farina wartet der Laptop, vor dem sie einen Großteil ihres Tages verbringen werden.

So wie den beiden geht es derzeit rund 3 Millionen weiteren Studierenden in Deutschland sowie vielen Millionen Arbeitnehmenden. Aufgrund der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Restriktionen wird der Alltag vermehrt von Zuhause aus bestritten. Dezentrales Arbeiten ist das Stichwort. Der Blogger und Journalist Sascha Lobo begreift diese Entwicklung in einer Spiegel-Kolumne als Chance, „das Leben nicht mehr um die Arbeit herum zu organisieren – sondern die Arbeit um das Leben.“ 

Als Indikator für eine veränderte Tagesgestaltung nennt er die sogenannte Duschspitze. Das ist der durch die Wasserwerke ermittelte Zeitpunkt des höchsten Wasserverbrauchs an einem Tag. Daraus kann abgelesen werden, um welche Uhrzeit die meisten Menschen morgens duschen. In Hamburg war das vor den Ausgangsbeschränkungen um etwa 07:45 Uhr. Seit März letzten Jahres verteilt sich der Wasserverbrauch stärker über den Tag und die Duschspitze hat sich um mehr als zwei Stunden nach hinten verschoben. Ein Hinweis darauf, dass viele Menschen ihren Alltag flexibler gestalten.

Céline vor ihrem Laptop in der Küche ©Alexandra Preißler
Céline vor ihrem Laptop

„Mal eben schnell zum Markt“

Von dieser Flexibilität profitiert auch Céline, die vor der Pandemie eher morgens geduscht hat und das jetzt gerne mal zwischen zwei Vorlesungen oder wie heute in die Mittagspause schiebt. Auch Farina, die mit einem Jutebeutel beladen zur Tür hereinstapft, bewertet das als positiv: „Ich dusche jetzt auf jeden Fall entspannter.“ Dann fügt sie hinzu: „Das betrifft auch andere Lebensbereiche. Ich habe jetzt die Möglichkeit, mal eben schnell zum Markt zu gehen, der nur zweimal die Woche ist.“ Céline nimmt Farina die Tüte ab und stellt sie auf einen Küchenstuhl. Unter dem hellbraunen Baumwollstoff zeichnen sich die Umrisse von Paprika, Lauch und Zwiebeln ab. Während eine halbe Stunde später buntes Gemüse in der Pfanne brutzelt, erzählen die beiden, dass sie seit der Pandemie häufiger mittags kochen und vermehrt auf frische Lebensmittel zurückgreifen. Die flexiblen Einkaufsmöglichkeiten sieht Céline als „Entlastung für den Alltag“. Sie ist froh darüber, nicht mehr so oft in der Mensa zu essen. Das Essen dort habe ihr oft nicht so gut geschmeckt.

Nicht nur Céline und Farina kochen jetzt mehr. Laut dem Vorsitzenden der „Stiftung Kindergesundheit“, Professor Koletzko, verbringen viele Menschen ihre Zeit nun öfter vor dem Herd. Er berichtet von einer Zunahme der Auslieferung von Kochboxen sowie einer Umsatzsteigerung bei Supermärkten. „Das sind gute Nachrichten“, kommentiert er diesen Umstand auf der Webseite der Bundesregierung.

Und tatsächlich, laut Statista hat der Kochbox-Anbieter „Hello Fresh“ seinen Umsatz seit Beginn der Pandemie mehr als verdoppelt und das Webportal „Chefkoch“ verzeichnet seit März eine Steigerung der Zugriffszahlen. Dieser Trend lässt vermuten, dass das dezentrale Arbeiten viele Menschen zu einer bewussten und gesünderen Ernährung animiert und statt zum schnellen Snack beim Bäcker nun öfter zum Kochlöffel gegriffen wird.

 

Corona bringt uns um den Schlaf

Die Erschöpfung zeichnet sich auf Jesses Gesicht ab, als er gegen 8 Uhr abends die Küche betritt. Er schleudert seine gelbe, mit „Deutsche Post“ bedruckte Maske auf den Tisch und macht sich eifrig über den Rest der Gemüsepfanne her. „Ich profitiere auf jeden Fall davon, dass jetzt mehr gekocht wird“, grinst er, bevor die letzte Nudel in seinem Mund verschwinden lässt. Später am Abend gucken die drei noch einen Film auf Célines Sofa. Obwohl die Studentinnen fast den ganzen Tag vor dem Bildschirm saßen, verspüren sie kaum Müdigkeit. „Das ist halt der Scheiß“, seufzt Céline, „man sitzt den ganzen Tag am Laptop und lenkt sich abends mit noch mehr Bildschirm davon ab. Es fehlt der Ausgleich.“ Farina nickt und ergänzt, dass sie wegen dem ständigen Sitzen mit Rückenproblem zu kämpfen habe und ihre Schlafqualität unter dem täglichen Bildschirmflimmern sowie dem Coronastress leide. 

Eine 2020 erschiene Studie der Schlafforscherin Christine Blume analysierte die Effekte der Pandemie auf das Schlafverhalten. Demnach schlafen die Menschen seit Beginn des Jahres zunehmend schlechter. Verantwortlich dafür seien insbesondere die psychischen und physischen Belastungen durch den Lockdown. 

Gemessen werden solche Daten zum Beispiel von der App Sleep Cycle, einem Schlaftracker des Apple-Betriebssystems iOS. Laut internen Daten hat sich die Aufwachzeit der Nutzer im Vergleich zu den Jahren davor zwar um ca. 20 Minuten nach hinten verschoben, wobei die Länge des Schlafes selbst sich um fast eine halbe Stunde verkürzt. 

 

„Langsam könnte die Pandemie mal vorbei sein“

Neben Duschspitze und Co. gibt es noch viele weitere Indikatoren wie beispielsweise die Häufigkeit von Parkbesuchen, die auf eine veränderte Tagesstruktur der Menschen in der Pandemie hinweisen. Allen voran dem dezentralen Arbeiten, ob in Online-Seminaren oder im Homeoffice, scheint dabei eine bedeutende Rolle zuzukommen. Auch, weil sie so ambivalent zu betrachten ist. Das Potential, Alltag und Arbeit flexibel miteinander zu verknüpfen, ist groß. Dennoch birgt das dezentrale Arbeiten viele Nachteile zu Lasten der physischen als auch der psychischen Gesundheit. 

Um kurz vor 11 hört man ein leises Schnarchen aus der linken Sofaecke. Jesse hat sein Gesicht in einem der vielen Samtkissen auf Célines Sofa vergraben. Er wird morgen wieder den ganzen Tag Pakete in der Stadt verteilen. Céline und Farina sind mit ihren Laptops verabredet. Farina seufzt beinahe resigniert: „Langsam könnte die Pandemie mal vorbei sein. Ich vermisse die Abwechslung und meine Kommilitonen.“ Céline nickt, während sie den Fernseher ausschaltet. Auf die Frage, ob sie Online-Seminare auch nach der Pandemie beibehalten wollen würde, schüttelt sie entschieden mit dem Kopf: „Die Möglichkeit wäre schon praktisch, wenn man zum Beispiel mal krank ist, aber auf Dauer ist das keine Lösung. Da dusche ich lieber morgens um 8 Uhr und esse jeden Tag das Gleiche in der Mensa.“