Warum wir Innenstädte neu denken müssen

Ein Kommentar von Lina Drecoll

Innenstädte: Leer. Verlassen. Am Aussterben. Warum genau jetzt der richtige Zeitpunkt ist, über eine Transformation zu sprechen und wie die Innenstädte in Zukunft aussehen könnten.

Die Flaniermeile am Stint in der Innenstadt von Lüneburg. ©Jana Möller
Die Flaniermeile am Stint in der Innenstadt von Lüneburg.

Innenstädte: Leer. Verlassen. Am Aussterben.

Hamburg: Leerstehende Filialen, verlassene kleine Lädchen und mit der Filiale in der Mönckebergstraße stirbt auch das nächste Haus von Galeria Karstadt Kaufhof. Insgesamt stehen knapp 70 Filialen des Warenhausgigantes auf der roten Liste. Egal, ob Modeketten, Technik- und Elektronikläden oder Wohnaccessoireketten: Immer mehr Unternehmen geben bekannt, Filialen schließen zu müssen. Einige waren bereits vor der Corona-Pandemie in ihrem stationären Handel geschwächt worden, da sich der Trend des Online-Shoppings seit längerem etabliert hat. Nun unterstützt die Bundesregierung Galeria Karstadt Kaufhof mit einem Staatskredit in dreistelliger Millionenhöhe. Zwar gab es auch für die kleinen Läden Staatshilfen, doch trotzdem gelangen nun viele Einzelhändler:innen, Gastronom:innen und Kulturschaffende an ihre finanziellen Grenzen. Simone Klöckner besitzt einen kleinen Dekoladen in Pirna und ist von den Lock-Downs stark betroffen. Sie und ihre Ladennachbar:innen in der Innenstadt wissen aktuell nicht, wie es weitergehen soll.

So wird in der Politik bereits über Fördermaßnahmen in Milliardenhöhe debattiert, wie man die Einzelhandelsriesen unterstützen könnte und die Läden zurück in die analoge Welt bringen könne. Doch warum fokussieren wir uns immer auf den Einzelhandel und insbesondere auf die Großkonzerne? Müssen diese denn wirklich zwanghaft zurück in die Innenstädte gelangen oder ist es vielleicht auch einfach legitim, wenn sie umziehen? Von den Straßen ins Netz? Denn das Kaufverhalten verändert sich seit Jahren. So stieg der Umsatz des E-Commerce seit Jahren weiterhin an. Wo es im Jahr 2010 noch unter 20 Milliarden Euro waren, erreicht das Online-Shopping 2019 bereits die Marke von 70 Milliarden Euro. Und auch eine Zukunftsstudie ergab, dass sich die Online-Entwicklung weiterhin positiv entwickeln wird, egal ob bei einem zu- oder abnehmenden Trendszenario. Sollte man nicht viele eher diese Veränderungen begrüßen und einen vergangen Zustand verabschieden?

Bedürfnisorientierte Transformation statt nostalgische Stagnation

Das Zauberwort lautet Transformation. Das Ziel sollte es doch sein, eine Transformation zu schaffen, die auf die Bedürfnisse der Gesellschaft angepasst ist. Wir müssen aus unserem Denken rauskommen, Innenstädte als reinen Platz für Einzelhandelsketten zu sehen und andere Möglichkeiten in Betracht ziehen. Die kleinen Dekoläden mit Selbstgemachtem, die historische Schokoladenmanufaktur oder eine einzigartige Boutique, in der man persönlich beraten wird, sie alle müssen wieder in den Mittelpunkt der Innenstädte geraten, sodass eine Symbiose zwischen Einzelhandel und Gastronomie einkehren kann. „Wir profitieren alle voneinander“, bringt Klöckner zum Ausdruck. Die Cafés und Restaurants profitieren vom Einzelhandel, der die Menschen in die Stadt lockt und die Läden wiederum von den schönen Flaniermeilen, die einen Stadtbummel erst so richtig aufleben lassen. Perfekt ergänzt werden könnte der Tag durch einen Aufenthalt in einem Spielecafé mit Freund:innen. Auch Michael Hintz, der Besitzer des EscapeRooms in Lüneburg, sieht beim gemeinsamen Erlebnis großes Potential, insbesondere nach der Pandemie. „Insgesamt bewegen wir uns immer mehr in die Richtung einer digitaleren und virtuellen Welt hin“, äußert sich Hintz. „Unterstützt durch die Krise wird auch in Zukunft immer mehr online eingekauft und das Homeoffice wird einen festen Platz im alltäglichen Leben bei vielen Menschen einnehmen. Besonders als Gegenpol und zur Inspiration wird das Erlebnis mit Freund:innen außerhalb der vier Wände einen hohen Stellenwert einnehmen.“ Der Einzelunternehmer sieht eine Transformation kommen, die bereits vor der Pandemie anstand, aber mittels der Pandemie noch um ein Vielfaches beschleunigt werden kann. Oder vielleicht sogar schon beschleunigt worden ist?

Nutzen wir die Chance

Die Pandemie zeigt uns, auf was es wirklich ankommt: Zusammenhalt. Wir sehnen uns nach Gemeinschaft. Bieten wir der Gesellschaft die Chance, sich zu vereinen und schaffen Innenstädte, in denen nicht mehr der Konsum, sondern die Gesellschaft und das gemeinsame Erlebnis im Zentrum steht. Die Innenstädte können wieder zum Mittelpunkt des Lebens werden. Wohnort, Freizeit, Kitas, Sportgelegenheiten, Genuss und Einkaufserlebnis zugleich und miteinander integriert im stetigen Gleichgewicht. Vielleicht sind die Mieten eines Tages auch erschwinglicher, sodass sich sogar die kleinen Erlebnisanbieter inmitten des Zentrums ansiedeln können und einen essentiellen Anteil des Stadtbildes ausmachen.

Transformation ist besonders nach einer Krise wichtig. Die Welt verändert sich. Wir verändern uns. Und dies sollte sich auch in den Innenstädten wiederfinden. Wir sollten nicht traurig über einen vergangenen Zustand sein, sondern mit einem gestärkten Blick in die Zukunft sehen, die Möglichkeiten und Chancen wahrnehmen und aktiv nutzen. Und eines Tages ist es vielleicht nicht mehr nötig, zum Konsum in die Innenstadt zu fahren, denn wir leben nun vor Ort in Gemeinschaft und Vielfalt.