B.Sc. Psychologie: Dr. Jorge Guerra González – Entfremdungskinder leiden am meisten

30.11.2022 Der promovierte Jurist und Verfahrensbeistand studierte an der Leuphana Psychologie, um die Fälle in seiner beruflichen Praxis besser verstehen zu können. In seiner Bachelorarbeit hat er sich mit dem Schicksal heute erwachsener Trennungskinder auseinandergesetzt

Portraitfoto von Jorge Guerra Gonzales ©fotografin Sandra Koenig
„Entfremdungskinder sind als Erwachsene oft unglücklicher, kränker und erfolgloser als andere“ sagt Jorge Guerra González.

„Wenn ein Kleinkind Begriffe wie „Verletzung der Fürsorgepflicht“ oder „Vernachlässigung“ benutzt, werde ich hellhörig“, sagt Jorge Guerra González. Der promovierte Jurist begleitet Familien, die sich trennen. Er spricht mit Kindern, um mehr über ihre Wünsche zu erfahren. Wie beurteilen sie die Trennung? Möchten sie lieber bei Mama oder bei Papa wohnen? Nicht selten seien Kinder von einem Elternteil beeinflusst. „Vor Gericht hat die Meinung des Kindes Gewicht, was richtig ist. Aber kann ein Achtjähriger ermessen, was es heißt, seinen Papa nie mehr sehen zu wollen?“, fragt Jorge Guerra González.

Der 52-Jährige blickt auf eine lange Bildungskarriere zurück. Er studierte in Madrid Rechtswissenschaft und wurde in Halle promoviert. Danach schloss er an der Universität Lüneburg ein Studium der Sozialökonomie ab und studierte berufsbegleitend „Nachhaltige Entwicklungszusammenarbeit“ an der Universität Kaiserslautern. 1997 wurde er vom DAAD als bester ausländischer Studierender ausgezeichnet. Mittlerweile unterrichtet der dreifache Vater selbst: 2010 erhielt er den Lehrpreis für seine Arbeit am Leuphana College. Doch eine Disziplin blieb für ihn offen: „Ich wollte Menschen besser verstehen. Also bewarb ich mich für das Bachelorprogramm Psychologie an der Leuphana“, berichtet Jorge Guerra González. Für seine Bachelorarbeit interviewte er 55 Erwachsene. Sie gehören drei Gruppen an: Kinder aus intakten Familien, Kinder aus Trennungsfamilien und so genannte Entfremdungskinder, die den Kontakt zu einem Elternteil verloren haben, beispielsweise durch einen Umzug, die Beeinflussung eines Elternteils oder sogar Entführung. „Wir, Professionelle im Familienhelfersystem (Richter*innen, Anwält*innen, Jugendamt-Mitarbeiter*innen, Verfahrensbeistände, etc.) können nicht wissen, ob wir tatsächlich im Sinne des Kindes Empfehlungen aussprechen. Es gibt keine Evaluierungen. Deswegen wollte ich mit meiner Studie einen kleinen Beitrag dazu leisten“, erklärt der Jurist. Die Daten liefern erste Hinweise, wurden aber noch nicht wissenschaftlich publiziert.

Die Ergebnisse der statistischen Auswertung seiner Erhebung sind teilweise niederschmetternd: „Entfremdungskinder sind als Erwachsene oft unglücklicher, kränker und erfolgloser als andere“ sagt Jorge Guerra González. Insgesamt sei eine Trennung schwierig für Kinder: „Aber die Entfremdungskinder leiden am meisten.“

Jorge Guerra González erlebt in seiner beruflichen Praxis als Verfahrensbeistand (Anwalt des Kindes) und als Umgangspfleger täglich schwierige Fälle. Er berichtet von Lügen, Zurückweisungen und sogar Gefängnis. Oft ist eine familiäre Lage brisant: „Manchmal müssen Kinder aus Familien genommen oder von einem Elternteil getrennt werden. Dabei muss man wissen, dass ein Kind damit auch mit der Zeit entwurzelt und entfremdet wird. Die gestörte Bindung zu einem Elternteil hat potenziell schweren Folgen für das künftige Wohlbefinden des Kindes.“ Für den Juristen stellt sich vor allem eine Frage: Wird der Schaden durch eine Abkehr von einer Hauptbezugsperson größer als der, den ich verhindern möchte?

Rund 30 Proband*innen aus seiner Studie wurden in der Trennungszeit etwa von Familiengerichten, Jugendämtern, Sozialarbeiter*innen oder Anwält*innen in Kontakt getreten: „Fast alle haben laut ihren eigenen Aussagen enttäuschende Erfahrungen gemacht. Wenige hatten das Gefühl, dass ihnen tatsächlich geholfen wurde. Ich arbeite selbst in diesem System: dass das Urteil so negativ ausfällt, hat mich schockiert. Wir müssen alle gemeinsam daran arbeiten, dass das System besser wird.“