Wie Wildnis das Klima schützt

Ein Feature von Yannick Mehne


Wildnis schützt das Klima! Eine Studie zeigt, wie Wälder und Moore beim Klimaschutz helfen. Doch trotz Unterstützung aus der Wissenschaft wird Wildnis nahezu gar nicht in der politischen Debatte berücksichtigt. Wie genau schützt Wildnis das Klima? Und wieso nimmt die Politik diese Chance nicht wahr? Es geht auf Spurensuche in den Wildnisgebieten Südbrandenburgs.

©Dr. Tilo Geisel, Stiftung Naturlandschaften Brandenburg
Grundlagenarbeit und Fotomonotoring zur Analyse von Wildnisentwicklung.


„Der Wald hat sich gut erholt und neu entwickelt,“ resümieren Nicole Schrader und Tilo Geisel beim Foto-Monitoring, dem Vergleichen der aktuellen Wildnisentwicklung mit den Bildern des letzten Jahres. Auf den Flächen des großen Waldbrandes 2019 haben sich im Schatten der alten Bäume wieder einige junge Birken, Kiefern und Pappeln ausgebreitet. Neuer Wald entsteht. Doch besser ist es, wenn der Wald gar nicht erst brennt. Waldbrandschutz ist auch eine Form des Klimaschutzes.

Exkursion in die Wildnis

Knapp 50 Kilometer südlich von Berlin erstreckt sich auf einer Fläche von 7.200 Hektar das Wildnisgebiet Jüterbog, das im Jahr 2000 von der Wildnisstiftung in Brandenburg erworben, gesichert und mit anderen Naturschutz- und Waldflächen immer weiter vernetzt wird. Die Wildnis entwickelt sich auf diesem ehemaligen Truppenübungsplatz, den die Rote Armee nach ihrem Abzug 1992 zurückgelassen hat. „Wildnis wagen“ – das ist das Motto und Satzungsziel der Stiftung Naturlandschaften Brandenburg: Die Wildnisstiftung. „Wir nehmen großflächig Gebiete aus der Nutzung und lassen Wildnisentwicklung für die Urwälder von morgen zu. In unseren Wäldern und Mooren wird sehr viel Kohlenstoffdioxid gespeichert und dauerhaft gebunden. Auch das ist Klimaschutz!“, führt Frau Schrader aus. Wildnis ist, wenn die Natur sich dauerhaft ungestört und ohne menschliches Eingreifen auf großer Fläche entwickeln kann.

Ich begleite eine Exkursion in die südbrandenburgische Wildnis. Gemeinsam mit Nicole Schrader, zuständig für Projektmanagement und Öffentlichkeitsarbeit bei der Stiftung Naturlandschaften Brandenburg, und Naturfotograf Tilo Geisel werden wichtige Forschungsdaten erhoben, zum Beispiel mit Hilfe eines wissenschaftlichen Foto-Monotorings. Eine genaue Dokumentation ist wichtig, da sie zeigt, wie sich die Wildnisgebiete entwickeln und verändern. Diese Daten sind äußerst wertvoll und werden für wissenschaftliche Projekte und Studien benötigt, aber auch für eine Akzeptanz fördernde Öffentlichkeitsarbeit in der Region und weit darüber hinaus.

Überraschung Kiefernwald

So werden die Forschungsdaten auch für die Studie „Klimaschutz durch Wildnis“ genutzt, die in den letzten Monaten bis Februar 2022 von der Stiftung Naturlandschaften Brandenburg, der Georg-August-Universität Göttingen und der Naturwaldakademie Lübeck durchgeführt wurden. Bäume können durch Fotosynthese Kohlenstoff speichern und Sauerstoff freisetzen. Ein wichtiges Fazit von neueren Forschungen ist, dass bis zu 50 Prozent der Biomasse eines Baumes aus Kohlenstoff besteht. „Damit ist der Wald auch in Wildnisgebieten ein wichtiger Klimaschützer. Kiefernwälder wie in Jüterbog speichern aufgrund des schnellen Wachstums und weil sie im Winter ihre Nadeln behalten mehr Kohlenstoff im Vergleich zu Laubwäldern. Dadurch sind die Kiefern die Spitzenreiter unter den Bäumen in der Studie „Klimaschutz durch Wildnis“ in Bezug auf Kohlenstoffspeicherung. Dieses Ergebnis hat uns ein Stück weit überrascht“, fasst Schrader die Studienergebnisse kurz zusammen.

Auf den Flächen der Stiftung darf die Natur sich natürlich entwickeln. Naturwälder entstehen, umgefallene Bäume bleiben liegen, eine große Anzahl diverser Pflanzen, Pilze, Moose und Flechten besiedeln bereits die ehemals zerstörten Flächen. Käfer, Ameisen und andere Kleinsttiere zersetzen das Totholz am Boden. Auf diese Weise entsteht Humus, ein überaus wichtiger Bodenbestandteil, der zu 58 Prozent aus Kohlenstoffbesteht, erklären Schrader und Geisel. So bleibt auch trotz der absterbenden Bäume ein Großteil des Kohlenstoffs gespeichert. Das ist ein unbeeinflusster nachhaltiger Kreislauf und gleichzeitig eine Win-win-Situation für die Artenvielfalt und das Klima.

©Dr. Tilo Geisel, Stiftung Naturlandschaften Brandenburg
hier läuft nach intensiver militärischer Nutzung Sukzession ab und ein von Menschen unbeeinflusster Naturwald entsteht für die Ewigkeit

 

Die besondere Rolle der Moore im Wildnisgebiet

Andere Teile des Wildnisgebietes Jüterborg bestehen aus Moorflächen. Schwarz-Erlen, Zwerg-Birken und ein paar Waldkiefern säumen die Wasserflächen. Libellen und Tagfalter schwirren im Sommer um die Binsen, Torfmoose und fleischfressenden Sonnentau-Arten. „Die Moore sind mit Abstand die größten Kohlenstoffsenken. Sie speichern weltweit mehr als doppelt so viel Kohlenstoff wie alle Wälder der Welt zusammen. Daher kommt dem Schutz und der Entwicklung jener Flächen eine besondere Bedeutung zu. Hier auf unseren Wildnisflächen in Brandenburg können wir einen großen Beitrag zum Klimaschutz leisten“, erklärt Nicole Schrader stolz. Dies liegt daran, dass die Biomasse wie Totholz im Moor vom Sauerstoff abgeschirmt ist. Dadurch werden die Zersetzungsprozesse ausgebremst und weniger Kohlenstoff wird wieder freigesetzt. Auf diese Weise entsteht in unteren Bodenschichten eines Moores auch Torf. Das funktioniert aber nur in einem intakten Moor, weshalb die Stiftung sich um die Renaturierung und Wiedervernässung einst für die Landwirtschaft trockengelegten Moore mit hohem Arbeits- und Finanzeinsatz kümmert.

 

©Dr. Tilo Geisel, Stiftung Naturlandschaften Brandenburg
eine Moorfläche in Jüterbog


Chancen für Gesellschaft und Politik

Wildnisgebiete werden in der Politik und auch in der Gesellschaft trotz ihrer besonderen Kohlenstoff-Senkenfunktion kaum berücksichtigt oder beachtet. Beispielsweise finden sich im Klimaplan des Landes Brandenburg, der derzeit erarbeitet wird, lediglich Moore und forstliche Nutzflächen wieder. Letztere haben den Nachteil, dass durch die Bewirtschaftung das Holz nach 60 bis 100 Jahren wieder entnommen wird. Dadurch wird nur vorübergehend und nicht dauerhaft Kohlenstoff gespeichert. Von Wildnis ist dort keine Rede, obwohl hier permanente Naturverjüngung erfolgen kann. Die Bäume können mehrere hundert Jahre altern bis zu ihrem natürlichen Zerfall, und selbst im Totholz wird noch Kohlenstoff gespeichert.

Ähnlich verhält es sich auf europäischer Ebene. Die Kommission unter Ursula von der Leyen hat in ihrem Green Deal zwar Ziele zum Klimaschutz verankert, der Fokus liegt hierbei jedoch auf Biodiversität und Nachhaltigkeit. Die Potenziale der Wildnis als natürliche Kohlenstoffspeicher werden nicht berücksichtigt.

Die Stiftung Naturlandschaften Brandenburg verfolgt das Ziel, mit den wissenschaftlichen Belegen aus der Studie „Klimaschutz durch Wildnis“ die Bedeutung der Wildnis für den Klimaschutz in die Diskussion einzubringen. Wildnisgebiete sind nicht nur ein großartiges Forschungslabor, bieten einer Vielzahl an unterschiedlichen Arten einen stabilen Lebens- und Rückzugsraum, sondern sind auch unsere Kohlenstoffsenken und natürlichen Klimaschützer. Welchen Nutzen Wildnis für den Klimaschutz haben kann, zeigt das Beispiel aus Brandenburg.

Derzeit bestehen 0,67 Prozent der Fläche der Bundesrepublik Deutschland aus Wildnis. Zu wenig! 2007 wurde von der Bundesregierung in der „Nationalen Strategie zur Biologischen Vielfalt“ das Ziel ausgegeben, auf 2 Prozent der Landesfläche Wildnis zu entwickeln. Ungeachtet unter welchen Beweggründen dieses Ziel ausgegeben wurde – es hilft auch dem Klima. Deutschland hat in Sachen Wildnis noch ein großes Potenzial.

 

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