Der Digitale Zwilling als Lösung der Corona-Pandemie

Ein Feature von Michael Schulte

Das Coronavirus zeigt den Menschen aktuell die Grenzen ihrer technologischen, ethischen und demokratischen Handlungsfähigkeit auf. Können Datenerfassung und Auswertung nachhaltig Pandemien bekämpfen und vermeiden?

Können Digitale Zwillinge Pandemien bekämpfen? ©pixabay.com - https://pixabay.com/de/illustrations/corona-covid-19-virus-smartwatch-5012844/
Können Digitale Zwillinge Pandemien bekämpfen?

Montag, der 22. Februar 2021 - ein weiterer Tag im Lockdown. Niemand weiß, wann Kinder wieder zur Schule dürfen, wann man aus dem Homeoffice zurück ins Büro kann oder der persönliche Kontakt zu Freunden, Familie und Bekannten wieder möglich sein wird. Die deutsche Politik hangelt sich von Krisensitzung zu Krisensitzung und die Sieben-Tage-Inzidenz volatiler als so mancher Börsenwert zu sein.

Ist der Heilige Gral zur Bekämpfung aktueller und zukünftiger Pandemien wirklich ein Impfstoff mit dem Ziel der Herdenimmunität? Oder liegt eine nachhaltige Lösung in einer völlig anderen Strategie?

Welchen Beitrag können Zukunftsstädte zur Pandemiebekämpfung leisten?

Sven Gábor Jánszky ist Zukunftsforscher. Er erforscht als Leiter des größten europäischen Trendforschungsinstituts 2b AHEAD, wie die Welt in Zukunft aussieht und begleitet Unternehmen auf dem Weg dorthin. Dazu gehören maßgeblich technologische Fortschritte sowie deren Integration in unsere Städte, unsere Wirtschaft und unseren Alltag. Auf die Frage nach der nächsten entscheidenden Zukunftsentwicklung für Städte ist sich Jánszky sicher: „Städte bekommen Digitale Zwillinge.“

Dabei handle es sich um präzise, digitale Kopien ganzer Städte sowie deren Bewohner:innen. Die Erfassung erfolge durch eine Vielzahl unterschiedlicher Sensoren. Das ermögliche beispielsweise das präzise Abbilden der aktuellen Wetter-, Verkehrs- oder Bevölkerungssituation einer Stadt. So bekämen die Städte einen detaillierten Überblick über aktuelle Geschehnisse und Zusammenhänge.

Hier ist jedoch noch nicht Schluss, denn Jánszky erklärt: Zukünftig ließe sich alles messen. Einiges würden wir uns noch gar nicht vorstellen können, aber langfristig könne man alles in Daten erheben. Von der Messung des „Happiness Levels“ der Bürger:innen durch Gesichtserkennung über öffentliche Kameras bis hin zur real-time Erfassung der Ausbreitung von Viren über smarte Körperimplantate. Jánszky selbst trägt bereits einen passiven RFID-Biochip unter der Haut. Technische sowie datenschutzrechtliche Herausforderungen Digitaler Zwillinge werden in einem anderen Blogbeitrag diskutiert.

In drei Schritten in eine bessere Zukunft.

Jánszky erklärt die Möglichkeiten eines Digitalen Zwillings mit einem simplen Dreisatz:

  1. Alles lässt sich messen und speichern.
  2. Alles, was sich messen lässt, lässt sich prognostizieren.
  3. Alles, was prognostizierbar ist, lässt sich optimieren.

Beispiel Pandemie: Wird eine präzise Verfolgung der Ausbreitung von Viren möglich, so Jánszky, könnten Infektionszahlen und Krisenherde prognostiziert werden. So könne gezielt präventiv gehandelt und ein Infektionsrisiko entscheidend gesenkt werden.

Für eine solche Prognose würden allerdings personenbezogene Bewegungs- und Gesundheitsdaten sowie Kontaktpunkte der vergangenen Tage jedes Bürgers und jeder Bürgerin benötigt. Die Corona-App bildet dies grundlegend ab – vollautomatisiert und mit strengen Datenschutzauflagen. Jánszky geht hier aber noch einen Schritt weiter und erklärt, warum die deutsche Corona-App nur der Anfang sein könne.

Transparente Bürger:innen gegen Corona

Für eine wirklich digitale Pandemie-Strategie müsse man eher nach Südkorea schauen, so der Zukunftsforscher. Die dortige Integration der Corona-App in weitere Smart-City-Sensorik sei aus technischer Sicht ein wirklicher Schritt zur Pandemiebekämpfung.

Der Lüneburger Student Jannes S. hat das vergangene Semester in Südkorea verbracht und bestätigt: Die Regierung erstelle anhand von GPS-Daten, Mobilfunknetzen und Bankdaten ein präzises Bewegungsprofil. Diese Daten würden mit Bildern öffentlicher Überwachungskameras abgeglichen, wodurch sehr exakte Kontaktpunkte festgestellt und die Einhaltung der Quarantäne besser kontrolliert werden könne. Gleichzeitig würden die Bürger:innen zweimal täglich aufgefordert, ihre Körpertemperatur zu messen und in der App einzutragen. Bleibe der Eintrag aus, erfolge ein Anruf der Regierung. Im Gegenzug warne die Corona-App in Echtzeit vor möglichen Infizierten im direkten Umfeld. Die Bürger:innen nehmen diese Überwachung allem Anschein nach widerstandslos in Kauf.

Jánszky sagt, der Eingriff in den Datenschutz und das Persönlichkeitsrecht sei zwar aus europäischer Sicht sehr bedenklich, ein nüchterner Blick auf die Zahlen zeige aber, dass Südkorea die Pandemie im Griff habe. Es habe nur einen lockeren Lockdown gegeben, die Inzidenz sei langfristig niedrig und die Landesgrenzen offen. Schaut man auf die offiziellen Zahlen bestätigt sich das: Insgesamt gab es auf 51 Millionen Einwohner:innen in Südkorea nur 81.487 bestätigte Corona-Fälle. Im Vergleich: Deutschland mit seinen etwa 83 Millionen Einwohner:innen hatte bis Februar 2021 über 2,3 Millionen Infektionsmeldungen.

Predictive Everything

Derartige Digitalisierungen werden sich laut Jánszky langfristig durchsetzen, weil sie es ermöglichen, unsere Lebensweise und -qualität durch vorausschauendes Handeln zu verbessern. Neben Städten und Kommunen verfolgen auch Konzerne wie Amazon oder Apple ähnliche Ansätze – allerdings in vollkommen unterschiedlichen Anwendungsfällen. Hier können durch große Datenmengen Vorhersagen über künftige Kauf- und Nutzerentscheidungen getroffen werden. Der predictive shipping Ansatz von Amazon soll künftig beispielsweise Produkte versenden, bevor der Kunde sie überhaupt bestellt hat. Alles anhand von Daten, Prognosen und darauf basierenden Entscheidungen.

Das größte Hemmnis für die Zukunft ist der Mensch.

Aus technischer Sicht zeigt Südkorea, dass der Digitale Zwilling auf Landesebene funktionieren kann und bereits Realität ist. Warum ist es dann bei uns noch nicht der Fall?

Jánszky beobachtet Zukunftsentwicklungen seit 20 Jahren. Seine Strategie sei es, die Vergangenheit zu studieren, um zu verstehen, wie seit hunderten von Jahren Entscheidungen getroffen und Fortschrittsprozesse umgesetzt werden, erklärt er. Hierbei habe er erkannt, dass technische und infrastrukturelle Herausforderungen zwar immer eine große Rolle für Fortschritt gespielt haben, der wesentlichste Aspekt sei aber der Mensch, der die Technologie nutzt. „Eine smarte Stadt braucht smarte Bürger:innen“, so der Leipziger Zukunftsforscher. In seinem neuen Buch „2030: Wie viel Mensch verträgt die Zukunft“ diskutiert er diese These im Detail. Nähmen die Bürger:innen neue Technologien nicht an und verweigerten den Fortschritt, verkümmerten die vielversprechendsten Smart-City-Projekte. Wichtig sei, dass die Menschen in den Städten offen für Neues seien und Veränderung annehmen würden.