Der zweite Utopie-Abend: Was ist Wohlstand und wollen wir den überhaupt retten?
Ein Bericht von Alexandra Preißler
Am Mittwochabend diskutieren Maja Göpel und Richard David Precht im Utopie-Studio über Wohlstand und entlarven die wirtschaftspolitische Auffassung davon als ein fragiles Konstrukt, das auf allen Ebenen dringend neu überdacht werden sollte.
Pünktlich um 19:00 Uhr begrüßt Maja Göpel aus dem Utopie-Studio die Zuschauenden des Youtube-Livestreams zum zweiten Utopie-Abend. Während am Tag zuvor darüber debattiert wurde, wie es eigentlich um die Zukunft der Arbeit steht, dreht sich das heutige Gespräch mit Richard David Precht um die Frage, ob und wie wir den Wohlstand retten können. Aber was ist Wohlstand überhaupt? Geld, ein erfülltes Leben oder doch das Bruttoinlandsprodukt? Wie misst man Wohlstand? Und welchen Wohlstand wollen wir eigentlich retten? Ausgehend von der Krise, der trotz aller Schwierigkeiten immer auch das Potential zur Veränderung beiwohne, nähern sich Göpel und Precht diesen und weiteren Fragen. Dabei diskutieren sie verschiedene Handlungsoptionen und Lösungsansätze.
Die Bilanz gegenwärtiger Krisen
Angeheizt wird das Gespräch durch die Einspieler-Rubrik „Stimmen aus der Republik“, in dem unterschiedliche Meinungen, Ideen und Denkansätze von anderen Expert:innen zum Ausdruck gebracht werden. Die Antworten auf die Frage, welche Krisen die Pandemie verschärfen und fortlaufend den Wohlstand gefährden, fallen dabei durchaus vielseitig aus. Für Lu Yen Roloff ist die Corona-Krise auch eine Krise des Gemeinwesens sowie des Klimas. Ulrike Herrmann sieht das Hauptproblem in der Wirtschaft, dessen kapitalistisches System ohne Wachstum nicht stabil sei. Und laut Gerhard Schick offenbart die Pandemie erneut die Instabilität des Finanzsystems.
Das hält auch Precht neben dem drohenden Öko-Kollaps für eine ernstzunehmende Gefahr, für die er aber prompt einen Lösungsvorschlag in petto hat: Finanztransaktionssteuer ist das Stichwort. Viel Hoffnung in die Politik hat er dabei allerdings nicht. Er hält sie angesichts der gigantischen Ausmaße der Probleme für „maßlos überfordert“. Laut Precht befinden wir uns in einem „Angststillstand“, der uns mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit lähmen wird und durch den wir zumindest im ökologischen Bereich erst wirklich etwas tun werden, wenn es bereits zu spät ist. Das werde den Wohlstand deutlich verschlechtern. „Jetzt sind wir ein bisschen hart in der negativen Analyse gelandet“, findet Göpel, die sich durch die folgenden, zweiten Einspieler der „Stimmen“-Rubrik positivere Ansätze erhofft.
„Befreiung von der Tyrannei der Metrik“
Diesmal geht es um die Frage, welche utopische Kraft die Pandemie freisetzen kann. Für Barbara Muraca hat die Pandemie unser Wertesystem verdreht, weil wir plötzlich merken würden, was wichtig sei. Matthias Horx spricht davon, dass sich der Tenor der Gesellschaft verändere und das Weitermachen, was er als „blinde, besoffene Hyperaktivität“ bezeichnet, vom Wunsch nach Veränderung abgelöst werde. Eine besondere Bedeutung lässt Manouchehr Shamsrizi dabei der Digitaltechnologie zukommen, die er als einzige Chance sieht, „diesen neuen Krisentypen zu begegnen“.
In der darauffolgenden Diskussion sprechen Göpel und Precht über den eng mit Wohlstand verknüpften Wachstumsbegriff und dessen Grenzen sowie über den Unterschied zwischen Bedarfsdeckung und Bedarfsweckung. Im Laufe des Gesprächs entwickeln sie Lösungsvorschläge, Utopien und Visionen auf verschiedenen Ebenen.
Auf Betriebsebene gälte es zukunftsorientierte Projekte voranzutreiben und das betriebswirtschaftliche Denken in Richtung Nachhaltigkeit zu drehen. Auf Produktebene benötige es ähnlich der abschreckenden Bilder auf Zigarettenpackungen Firmen- und Produktsiegel für beispielsweise besonders schlechte Umweltbilanzen, um so Abweichungen umzukehren. Auf der Makroebene müsse eine „Befreiung von der Tyrannei der Metrik“ stattfinden, weil sich Wohlstand eben nicht oder zumindest nicht nur in Zahlen ausdrücken lasse. „Es gibt nämlich nicht zu wenig Geld auf diesem Planeten. Es läuft nur nicht in die Richtung, wo tatsächlich Wertschöpfung für die Menschen entsteht und Schadschöpfung an dem Planeten reduziert wird“, beendet Göpel das Utopie-Gespräch über Wohlstand, welches bei dem ein oder anderen vielleicht mehr Fragen aufgeworfen als gestillt hat.
Mikrotopie als Ort der Begegnung
Für weiteren Gesprächsbedarf gibt es zum Glück die digitale Mikrotopie, in der im Anschluss an das Utopie-Gespräch in einer kleinen Gruppe per Zoom über die vorangegangene Diskussion sowie über die eigenen Ideen und Vorstellungen gesprochen werden kann. Die Moderator:innen Sara Schulte und Florian Schmidt, Teil des Utopie-Konferenz-Teams, geben die grundlegende Definitionsfrage des Wohlstandes zur Diskussion frei. Die Teilnehmer:innen finden sich in Break-Out-Rooms zu Gruppen zusammen und sprechen über ihre eigenen Vorstellung von Wohlstand. Es fällt nicht einmal das Wort „Geld“ oder gar der Name eines materiellen Objekts. Stattdessen definiert sich Wohlstand für die Teilnehmer:innen in einem „vielfältigen und intaktem Beziehungsnetzwerk“, in „Selbstverwirklichung“ oder als „die Bedürfnisbefriedigung aller im Einklang mit der Natur und sich selbst“. Und diese Art von Wohlstand gilt es für die Teilnehmer:innen zweifelsohne zu retten.
Im anschließenden Gruppengespräch offenbart eine ältere Teilnehmerin, dass die Corona-Pandemie für sie der Auslöser für eine nachhaltige und umweltbewusste Denkweise war und dass ihre Zwanziger weniger davon geprägt gewesen seien, als es heutzutage bei den Student:innen der Fall ist. Eine ebenfalls ältere Teilnehmerin pflichtet ihr bei und hebt die Mikrotopie als wertvollen Ort der Begegnung verschiedener Generationen heraus. Das rührt Moderatorin Sara: „Dafür machen wir es.“ Auch diesmal visualisiert Jacob Kohlbrenner die Diskussion mit einem Echtzeit-Gedankenbild.
Weitere Infos zu den Mikrotopien-Veranstaltungen und zum Team findest du hier. Die Zoom-Plätze für den kommenden Mikrotopie-Abend sind bereits ausgebucht.